Wieviel Klarheit braucht die Wahrheit?
Nr. 112: Über die Frage, ob man sagen darf, was man denkt
Nr. 112: Über die Frage, ob man sagen darf, was man denkt
„Warum nehmen Sie das so wahr?“
Mit dieser Frage beginnt ein Kommentar auf meinen LinkedIn-Post zu Duz-Zwängen. Mit bis heute 70.000 Einblendungen und 370 Kommentaren zählt er zu meinen erfolgreichsten - und zugleich umstrittensten.
Zu keinem meiner LinkedIn-Beiträge habe ich zudem je so viele private Nachrichten bekommen. Die Nachrichten stammen überwiegend von Lesern, die mir zustimmen. Die aber im gleichen Atemzug sagen, dass sie schon lange aufgegeben hätten, sich öffentlich dazu zu äußern.
Wahrnehmen oder Wahrheit?
„Wahr“ kommt von „wahrnehmen“. Es ist ein subjektiver Akt, anders als die „Wahrheit“, die deklariert, objektiv zu sein. Der Kybernetiker Heinz von Förster formulierte einmal: „Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners“. Wie das gemeint war, kann man in seinem langen Gespräch mit dem Medienwissenschaftler Pörksen nachlesen (siehe Link).
Dieses Zitat wird zu unrecht oft relativierend verwendet:
„Ja, das kann man aus dieser Perspektive so sehen.“
„Aus seiner/ihrer Perspektive hat er/sie recht.“
Es bettet persönliche Wahrnehmung ins gemütliche Bett der individuell konstruierten Wahrheit. Das ist eine Subjektivität, die für alle gelten darf. Doch wo finden wir dann Einigkeit?
„Worauf können wir uns alle einigen?“
Hier greift gerne das „Sowohl-als-auch“. Es lässt Raum für alles: Die einen duzen sich, die anderen siezen – wo ist das Problem? Das verbindende, im hegelianischen Sinn „höhere“ Element könnte dann das individuelle Wohlbefinden sein.
Alternativ könnte man auch den Kontext als Orientierung für die Verbindung der beiden Stränge nehmen:
„Das Seminar-Du ist völlig in Ordnung, aber in anderen Umgebungen gilt es nicht mehr als vereinbart.“
Das „Sowohl-als-auch“ sucht den Widerspruch aufzuheben, die Wahrheit gemäß der Wahrnehmung zu differenzieren. Stattdessen rücken kulturelle oder gruppenbezogene Werte in den Fokus.
„Ich orientiere mein Handeln am höheren Gut – dem Wohl- und Näheempfinden der Menschen in der Gruppe.“
Solche Aussagen schaffen neue relative Wirklichkeiten, die Unterschiede scheinbar aufheben. Doch bei existenziellen Entscheidungen zeigen sich die Konflikte in den verschiedenen Auffassungen und relativen Orientierungen. Wenn alles relativiert ist, verschwindet Klarheit. Das Denken wird herausgefordert. Und Denken ist in unserer Gesellschaft nicht geübt. Es beherrsct kaum noch jemand.
An dessen Stelle tritt die moralisch „reine“ Schwester der Fake News auf: das Narrativ.
Narrative – Konstruktionen mit Absicht
Der Begriff „Narrativ“ begegnet uns heute überall: in Unternehmen, Magazinen, Schulungen. Narrative werden gezielt konstruiert, etwa das Narrativ der Turnschuh- und Duz-Kultur. Ihr Ziel? Nähe in die kalte Arbeitsbeziehung bringen. Doch einige Narrative zerbrechen gerade an der harten Realität der Wirtschaftskrise.
Postmodernes Denken erklärt Wahrheit als kontextabhängig: Alles ist wahr – je nach Perspektive. Das macht Fake News zu einer logischen Folge. Denn wenn alles wahr ist, sind es Fake News auch. Ein Meme entsteht, und schon wird es wahrgenommen.
Die Diskussionen werden komplizierter, die Lösungen ausgefeilter. Einer meiner Kunden bewarb sich auf eine „Du-Anzeige“. War das ein Kampagnen-Du? Er entschied sich, es für ein kulturelles Narrativ zu halten, erhielt aber eine Absage mit „Sie“. Der Duz-Zwang ist subtil. Er sagt nicht immer “du musst duzen, um dazuzugehören”. Er stellt viele Fragen.
Und beschäftigt erhebliche Gehirnkapazität. Da wäre die „Wahrheit“ doch einfacher – auch wenn sie eine Lüge ist. Eine solche wäre etwa, wenn ich formuliert hätte: “Das ist ein Kampagnen-Du”, lass es sein. Aber ich habe relativiert; ich bereue es.
Realität – mehr als subjektive Wahrheit
Ich glaube, diese permanente Relativierung trägt dazu bei, dass sich immer mehr Menschen in Extreme begeben. Relativierung ist anstrengend. Wenn nichts wahr ist, muss man ständig nachdenken. Deshalb erlebt das reine Fühlen Hochkonjunktur. Das Fühlen, etwa in Achtsamkeit, braucht keine Bezüge mehr.
Aber wie trifft man dann Entscheidungen? Wir brauchen vielleicht keine Wahrheit, aber Realität. Realität ist mehr als eine subjektive Wahrheit. Sie existiert unabhängig davon, ob sie wahrgenommen wird oder nicht:
Realität ist echt.
Mein Podcast-Gesprächspartner Wolf Lotter schreibt in seinem Buch „Echt“:
„Wenn hier Echtheit steht, dann meint dies das Handfeste, das Livekonzert, das wirkliche Leben, das Materielle, die Realität, die keine beliebige Konstruktion ist und keine unverbindliche Größe. Sondern: Qualität.“
Lotter nimmt der Realität die Beliebigkeit. Sie ist kein Narrativ.
Die Realität ist, wenn ich sehe, dass ich als Unternehmerin Gehälter nur noch für sechs Monate zahlen kann. Das ist keine Lüge. Realität schafft gemeinsame Bezüge, die echt sind – nicht wahr, aber real.
Der Baum im Wald ist real, unabhängig davon, ob ihn jemand sieht.
Das “du” in der Anzeige ist ebenso real wie die Antwort in “Sie-Form”.
Klarheit statt Relativierung
Wenn ich den “Duz-Zwang” beklage, beruht dies auf realen Erfahrungen. Ich habe Evidenz gesammelt. Dadurch wird es aber nicht wahr für alle. Aber es fordert auf, genauer hinzusehen. Das muss ja niemand tun, so wie auch niemand meinen Newsletter lesen muss.
„Hört auf mit dem Duz-Zwang“ ist mit scharfen Kanten formuliert, um an die Realität anzuklopfen. Würde ich direkt mit Relativierung einsteigen, bliebe das Tor zu. Danach kann ich aus aufmachen. Aber wenn es von vorneherein offensteht, läuft jeder durch.
Echt ist nicht, wer einfach „raushaut“, was er denkt. Es braucht Wissen, Empirie, persönliche Erfahrung. Das ist der Kern jeder Diversität. Echt ist, was uns auszeichnet – nicht, was wir anpassen, um Rücksicht zu nehmen. Es geht nicht um „Du“ oder „Sie“. Es geht darum, ob wir es aushalten, dass es andere Erkenntnisse gibt als unsere eigene.
Und da gibt es wichtigere Themen als das Du und das Sie.
Es betrifft - alles
Mein freier Newsletter erscheint ab sofort wieder zweiwöchentlich, aufgehangen an aktuellen Fragestellungen. Da steckt schon ein bisschen Denk- und Lesearbeit drin. Podcasts behandle ich ab sofort unabhängig davon in eigener Reihe.
Den Podcast mit Wolf Lotter über das Echte und Charakter gibt es ab 11 Uhr mit 20-Freiminuten hier.
einen schönen Sonntag
eure oder Ihre Svenja Hofert
Weiter lesen
Heinz von Förster und Bernhard Pörksen: Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners: Gespräche für Skeptiker. Carl-Auer 2022
Lotter, Wolf: Echt. Der Wert der Einzigartigkeit in einer Welt der Kopien. Econ, Berlin, 2024