Nr. 82: Projektion, Übertragung und Emotionsentsorgung
Gerade komme ich zurück aus Wien, deshalb habe ich meine Kolumne am Sonntag nicht geschafft.
Ich habe gelernt, dass Müll hier Mist heißt. “Mist-Gefühle” sind also als Metapher zu verstehen: Gefühle für die Mülltonne. Gefühle, die entsorgt werden sollten. Aber wie trenne ich die Mist-Gefühle von anderen, verwandle sie sogar in positive Energie?
Gruß aus der Berggasse 19
Ich habe in Wien Siegmund Freud in der Berggasse 19 besucht. Vor seiner Flucht nach London hat er dort gelebt und praktiziert. In seinem Leben hat er nicht nur fast 30 Bücher, sondern auch 20.000 Briefe geschrieben. Und weit über den Horizont der Psyche hinaus gedacht, als er etwa mit Einstein über den Pazifismus reflektierte.
Sein berühmtes Sofa, auf dem Klientinnen wie „Dora“ mit Blick auf die Kastanienbäume von der Therapeutenmimik entlastet vor sich hin assoziierten, ist allerdings verschwunden. Nicht jedoch der Geist dieses Mannes: Sein Fokus auf Triebe mag vor allem zeitgeschichtlich und gesellschaftshistorisch erklärbar sein, das von ihm entdeckte Unbewusste jedoch ist relevanter denn je. Zudem wissenschaftlich rehabilitiert durch stützende Erkenntnisse der Neurowissenschaften und die aktuelle Emotionsforschung.
Mitschwingen und nachspüren
In Wien habe ich mit einer Gruppe „intervisioniert“. Wir reflektierten also Fragestellungen beruflicher und persönlicher Art.
Bei solchen “Einfühltätigkeiten” nutzen wir nicht nur menschliche, sondern zwischenmenschliche Fähigkeiten, die mit sozialen Phänomen wie auch mit Spiegelneuronen zusammenhängen. Diese Dinge ermöglichen es uns situativ mitzuschwingen und jenseits der Worte in die Welten anderer hinein zu spüren.
Was schwingt mit, was klingt durch?
Welche Empfindungen löst das in mir aus?
Was landet vom anderen bei mir?
Wie zeigt sich das, was dem anderen gehört, in mir?
Es geht also darum, eine Fähigkeit zu nutzen, die wir auch im Alltagssprachgebrauch unter den Begriffen „Projektion“ und „Übertragung“ kennen. Nur dass es hier beabsichtigt, bewusst geschieht. Die Kunst eines “Reflecting Teams” ist es, das diffuse Unbewusste prägnant werden zu lassen, es in Worte zu fassen. Was entsteht ist emergent, erhält durch die Gruppe also eine Form, die ein Einzelner nicht so hervorbringen könnte. Es wird projiziert, nur ganz bewusst.
Freuds Tochter Anna Freud zählte die Projektion zu den unreifen Abwehrmechanismen. Projektion schützt also, schmeißt ungute Gefühle aus dem eigenen Körper. Entsorgt deshalb auf eine Weise, die den anderen in Mitleidenschaft zieht. Konflikthaftes, von uns selbst nicht Gemochtes, drängen wir in die Fühlzone der anderen. Das braucht auf der anderen Seite jemanden, der das zulassen und aufnehmen kann. Geschieht das bewusst, gewinnen alle “Daten” über das, was im Zwischenmenschlichen passiert - bei dir und bei mir. Geschieht es unbewusst, landen wir oft in schwierigen Verhältnissen und Situationen. Im emotionalen Kuddelmuddel, nicht in der Melange.
Der psychodynamische Mechanismus basiert darauf, dass wir unbewusste Denk- und Fühlinhalte auslagern und weitergeben können. Er überschreitet also Ich-Grenzen. Tun wir das bewusst, erfordert das gewöhnlich einige Praxis, die Reflexion über des Reflektieren.
Das Mistgefühl will bewegt werden. Svenja Hofert
Aus der Freudschen Definition ins Allgemeinere enthoben kann Projektion alles beschreiben, was im Raum zwischen Menschen hin- und herwabert. Übertragungsgeschehen ist ein universelles menschliches Phänomen.
Das Resonanzphänomen des Soziologen Hartmut Rosa ist - so betrachtet - auch Projektion. Indem wir das, was zwischen uns konsonant und dissonant schwingt, greifen und es für uns gedanklich-sprachlich fassbar machen, schaffen wir neue Spielräume. Etwas vorher Undenkbares wird denkbar. Etwas Denkbares kann in Handlung übersetzt werden. Und seien es nur Worte. Ja, auch Worte sind Handlungen.
Oder anders gesprochen: Das Mist-Gefühl kann allein dadurch „entsorgt“ werden, dass es bewusst wird oder ins Vorbewusste aufsteigt, wo es noch länger bewegt werden will.
Du erinnerst mich an…
.Von der Projektion zu unterscheiden ist die Übertragung. Mit dieser verhält es sich komplizierter. Wir brauchen dafür ein Verständnis des psychoanalytischen Objektbegriffs. Ein Objekt ist in der Psychoanalyse nicht nur etwas, das in anderen besteht, sondern auch in uns selbst. Es ist das, was wir uns aus dem Anderen in uns abgespeichert haben. Nicht wie oft gesagt wird „der Vater“ oder „die Mutter“, sondern die vom erwachsenen Kind dazu gespeicherten Gefühle, Glaubenssätze, Bilder.
Das ist ein Unterschied: Das Objekt zur Mutter in mir ist nicht die Mutter selbst. Weshalb die Mama des Serienmörders eine nette Person sein kann, wenn du verstehst, was ich meine. Und nicht jedes Geschwister die gleichen Objekte in sich trägt.
„Dann hat er mir gesagt, dass du ihn an seine Schwester erinnerst“, erzählte mir ein Bekannter, dessen Freund bei mir im Coaching war. Da brauche ich mit der Schwester keinerlei Ähnlichkeit zu haben. Was hier aktiviert wird, ist das Objekt zur Schwester.
Die Übertragung trägt oft besondere Mist-Gefühle in sich. Diese sind in Glaubenssätzen wie "ich bin nicht gut genug" verstrickt. Ein Versagensgefühl kann allein durch die Nähe einer erinnernden Person ausgelöst werden. Ein Gefühl wird ausgelöst.
Wenn die andere Person gegenüberträgt, nimmt sie das Objekt der übertragenden Person auf und an. Das führt vor allem dann zu Negativspiralen, wenn Mist-Gefühle im Spiel sind. Wenn also die Versagensangst zum Versagen selbst schon deshalb beiträgt, weil „vor mir ist ein Versager“ beim anderen ankommt. Das passiert durch subtile Botschaften: Stimme, Haltung, Körperdistanz, ja auch Körpernähe.
Es gibt eine konkordante und eine komplementäre Gegenübertragung. Konkordant ist die Übertragung, wenn wir einfach mitfühlen, was der Mensch fühlt. Komplementär, wenn wir das fühlen, was der andere in uns überträgt, beispielsweise die Abwertung, die jemand unbewusst von seinem “Vaterobjekt” erwartet.
Projektionen in der Gruppe
Die Phänomene Projektion und Übertragung sind auch auf der Gruppenebene relevant. Warum neigen bestimmte Personen dazu, immer wieder ähnliche Positionen einzunehmen, beispielsweise Omegapositionen wie Narr oder Außenseiter? Das lässt sich systemisch erklären, aber auch psychodynamisch.
So gibt es Menschen, die verschiedene Positionen einnehmen können, während andere geradezu für eine Rolle prädestiniert sind. Das ist dann auch der Unterschied: Die Position als fließende Stellung zu einem Gegenüber verändert sich zur festen Rolle, die auch in andere Kontexte getragen wird.
Für das Phänomen der Übertragung finden sich auch wissenschaftliche Belege, etwa in der Attributionstheorie. Menschen, die zu aggressivem Verhalten neigen, unterstellen anderen häufiger böswillige Absichten, das verstärkt sich dann gegenseitig. Kommt Gruppendenken dazu, landen wir beim kollektiven Hass. Die israelische Sängerin Eden Golan war an diesem Wochenende Projektionsfläche für den Hass von Demonstranten mit der Gallionsfigur Greta Thunberg.
Die Gruppe lädt sich durch sich durch ihre Anführer auf.
Womit sich diese Phänomene mit anderen dynamisch verbinden: Kollektive Projektionen machen Reflexion unmöglich. Die Gruppe lädt sich durch sich durch ihre Anführer auf. Diese nähren auch Mist-Gefühle durch ihre scharfe Positionierung gegen das Böse, das verdammt und sogar gejagt werden muss. Die Projektion geht in die Fläche. Übertragung kann dabei durchaus eine (über-)tragende Rolle spielen, etwa wenn bestimmte Personengruppen in ihrem Auftreten an abgespeicherte Objekte erinnern. Und da wäre es schon wieder, das Mist-Gefühl.
Mistgefühle identifizieren und bewusstmachen
Mist-Gefühle zu identifizieren und für sich zu sortieren, ist ein wichtiger Schritt zu mehr Souveränität. Sie blockieren unsere Energie nämlich oft da, wo sie im Fluss bessere Dienste leisten könnten.
Nehmen wir ein Beispiel: Maria arbeitet als Personalentwicklerin. In einem Workshop spürt sie eine seltsame Anspannung und unbekannte Angst. Sie steuert dagegen, indem sie straff moderiert und Flipcharts voller Maßnahmen vollschreibt, die die anderen angeblich erledigen wollen. Während sie das tut, weiß sie aber schon, dass davon nichts umgesetzt werden wird.
Als sie später mit ihrem Coach die Situation reflektiert, kommt ein Gedanke auf: Könnte sie die Verantworung abgenommen haben? Wäre es möglich, dass sie in ein ihr vertrautes Muster gesprungen ist und die Verantwortung für alles, was passiert auf sich konzentriert? Oder spiegelt sich hier etwas, das sie früher immer wieder erlebt hat: Sie als fleißiges Töchterlein, dass sogar den Eltern die Bürde der Erziehung der kleineren Geschwister abnimmt?
Projektionen prägen unser ganzes Leben. Sie bringen nicht nur Mistgefühle mit sich. Verliebtheit ist oft eine einzige große Projektion. Ob es auch eine Übertragung ist? Dann, wenn wir immer wieder in das gleiche Muster stampfen. Immer wieder ein ähnlicher Typ von Chef. Immer wieder vergleichbare Situationen. Und nach der ersten Zeit wieder Mist-Gefühle.
In Wien kann man einen „Klimaschmutzexperten“ anrufen. Es gibt ein Misttelefon. Gut, wenn wir auch jemand haben, mit dem wir über unsere Mistgefühle sprechen können! Denn auch sie lassen sich wiederverwerten. Aus unbewusster Aggression kann energetische Spannung werden. Aus unterdrückter Angst angenehme Empfindsamkeit. Gefühle sind so wandelbar. Welch ein Glück.
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