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Ich will Sie nicht erschrecken. Die Blumen sind für Sie. Ich habe dieses Bild gewählt, weil es überraschend und widersprüchlich ist. Es gibt ein bisschen was zu Denken, so wie dieser Newsletter. Das hoffe ich jedenfalls.
Dies ist meine erste Ausgabe von Weiter Denken. Ich werde sie vorerst am jeweils 2. Wochenende eines Monats Freitagnachmittags an Sie verschicken. Meine Hoffnung ist, dass Sie zwei Tage Zeit zum Lesen haben. Jede Ausgabe hat einen thematischen Schwerpunkt. Sie beinhaltet eine Kolumne, zum Schwerpunkt passende Texte, Videos und Podcasts.
Emotionen und Krise
Ich widme die 001 dem Thema Emotionen und Krise und nicht etwa James Bond. Alles fängt schließlich mit Gefühlen an, oder vielmehr mit Affekten. Affekte sind die Vorstufe der Gefühle. Sie fahren wie kleine Blitzlicht-Vorahnungen durch unsere Körper. Sie kitzeln Bauchgefühle raus. Aber setzen auch Gedanken in Brand. Jeder innere Krieg ist eine Auseinandersetzung widerstreitender Gefühle, die um Vorherrschaft buhlen. Zart oder hart wird das innere Gänseblümchen gezupft: „Ich lieb´ dich, ich lieb´ dich nicht.“
Der innere Frieden nach längerem Mit-Sich-Ringens dagegen beginnt mit Akzeptanz dieses Widerspruchs. Ich akzeptiere die negativen Seiten meiner Gefühlswelt, und damit auch die Ungewissheit. Der Frieden beginnt immer mit dem Sich-Einlassen auf widerstreitende Gefühle, nicht mit dem Wegdrücken und Verleugnen.
In meinen fast 25 Jahren als Coach habe ich immer wieder erlebt, dass der Umgang mit widersprüchlichen Gefühlen entscheidend für die Lösung ist. Viele suchen nach dem Glücksgefühl, nach Eindeutigkeit, ungetrübter Klarheit. Doch Klarheit ist in eine Folge vorherigen Ringens. In der Arbeit mit Organisationen habe ich das auch so erlebt: Das Neue braucht die kleine und große Krise. Es ist das Wesen von Veränderung. Deshalb hat es so viele Feinde.
Was den Menschen vom Computer unterscheidet, ist seine Fähigkeit zum Umgang mit Ungewissheit. Er kann die Zukunft formen. Künstliche Intelligenz dagegen kann nur mit der Vergangenheit arbeiten. Sie kann nicht so wunderbar kreativ-unberechenbar sein. Sie kann auch nicht fühlen. Künstliche Intelligenz ist da gut, wo es um die stabile Welt geht, die vergangene Welt also und deren Daten. Menschen sind da unschlagbar, wo es um die künftige Welt geht, die zu schaffende Welt und deren Formen.
Jeder Gedanke, der unsere innere Welt formt und gestaltet, beginnt mit dem Fühlen. Das Fühlen verbindet Menschen. Aber das ist es nicht allein. Ohne das Denken ist es nichts. Wenn wir Fühlen und Denken zusammenbringen, können wir Großartiges leisten. Deshalb habe ich mich auch für diesen Newsletter-Titel entschieden „Weiter Denken“. Ohne das Fühlen ist Denken hohl. Dies verkennt, wer sich in Theorien verliert und den Bezug zum Herzen körperlos herstellt, wenn überhaupt.
Die Ukraine, die Schuld und atmende Wörter
Jetzt sind wir mitten im Thema, Emotion und Krise. Wie fühlt sich für Sie „Ukraine“ an? Empfinden Sie Mitgefühl? Trauer? Gar Scham oder Schuld? Wenn ich an Schuld denke, landen meine Gedanken bei Ferdinand von Schirach. Seine Filme und Bücher verwirren, weil sie unsere Emotionen verändern. Sie sagen einem immer wieder: Es ist anders, als es scheint, also als du es fühlst. Er spielt mit seiner wunderbaren einfachen Sprache mit der vermeintlichen Sicherheit des Bauchgefühls.
In seinem autobiografischen Buch „Kaffee und Zigaretten“ schreibt er von einem Pater, der ein Reh tötet, das in eine Falle geraten ist. Die Falle hatten Internatsmitschüler aufgestellt, Ferdinand war dabei. Natürlich wollten die Kinder das Reh nicht töten.
Das ist was ich meine: Schuld, die da ist und doch keine ist. Der Pater folgte einem Lebensmotto: Sei mutig, tapfer und sanft. Mich hat das sehr berührt. Es zeigt, dass Worte nur leben, wenn sie sich im Handeln spiegeln. Sonst sind sie nichts. Körperloser Text. Worte, die nicht atmen. Den meisten ist nicht bewusst wie wichtig es ist, dass Worte atmen. Sie sprechen von Agilität, Transformation oder New Work, aber ohne etwas, das die anderen spüren – wie den Atem
Deshalb gibt es so viel nichtsagende Kommunikation.
Widersprüche atmen lassen
Denken Sie jetzt an etwas, was Ihnen wirklich, wirklich wichtig ist. Ich glaube nicht, dass es etwas Konkretes wie eine mathematische Formel ist. Sie haben an etwas gedacht, was bewegend, atmend ist. Vielleicht war da ein Bild, aber ich wette weder Geldschein noch Goldkettchen. Vielleicht können Sie die Emotionen hinter Ihren Gedanken erkennen und benennen. Dann kann ich Sie beglückwünschen und bedauern zugleich: Emotionsentwicklung ist Persönlichkeitsentwicklung. Wenn wir erst den Gedanken, dann das zugehörige Gefühl, oder umgekehrt, wahrnehmen können, dann spricht das für Reife, Resilienz.
Es tut gut, widersprüchliche Gefühle einfach sein lassen zu können: so widersprüchlich wie sie sind. Denn selten haben wir nur Angst oder spüren nur Freude. Meist ist es diffus. Erst recht, wenn wir Dinge neu lernen, erfahren, etwas verändern. „Was spürst du? Ich weiß es nicht!“ Das Suchen nach einem Namen, nach einer Repräsentanz in Körper hilft, auch wenn sie dauert. Manchmal kommt das Gefühl an ganz anderer Stelle raus. Wer Meditationserfahrung hat, kennt es: Da kommen plötzlich Tränen hoch, man weiß nicht, warum – und erst da wird die Trauer fassbar, aber auch die Freude, die Liebe.
In diesen Momenten wird auch klar, was der wirkliche Kern unserer Überzeugungen unseres Glaubens ist. Es hat oft wenig mit der Überzeugung selbst zu tun. Sie löst sich aus den festen Schranken und der Umklammerung unserer Gedanken. Das befreit, selbst wenn es traurig ist.
Erst fühlen, dann Denken
„Das Fühlen kommt vor dem Denken“, ist eine noch recht junge neurobiologische Erkenntnis, vielleicht 10, 20 Jahre alt. Deshalb ist es so schlimm, wenn es verloren geht.
Im Coaching hatte ich es immer wieder mit Managern zu tun hatte, die gar nicht so richtig fühlten. Einige spulten einfach Inhalte ab. Wenn ich dann fragte „sagen Sie jetzt mal nichts. Was fühlen Sie?“ konnten viele nicht orten, was es war. Viele wollten auch nicht, denn das sind wir wieder: Emotionen und Krise. Die Lösung soll bitte ohne Krise kommen.
Lisa Feldmann-Barett hat mit ihrer Emotionsforschung mit veralteten Vorstellungen unserer Gefühlswelt aufgeräumt. Etwa mit dem “Reinheitsgedanken” der Emotion, die losgelöst vom Kontext und bei allen gleich ist. Sie sagt: Alles in uns ist eine Ahnung, Prediction, wir stellen den Sinn über den Kontext her. Immer ziehen wir vergangene Erlebnisse heran.
Bauchgefühle dienen dazu, uns in Sicherheit zu wiegen. Sie halten uns im Vertrauten, das ist ihr Sinn und Zweck. Bauchgefühle beziehen sich nicht auf etwas, was wir noch nicht kennen, deshalb fühlt sich Neues immer fremd an - bis wir das Vertraute darin gefunden haben.
Veränderung ist so nicht zuletzt oft auch die Krise des Bauchgefühls. „Frau Hofert, kann das wirklich wahr sein? Kann es wirklich wahr sein, dass ich all die Jahre ein falsches Bauchgefühl hatte?“ Es war kein falsches Gefühl. Es passte nur zum Früher, aber nicht mehr zum Jetzt.
Gedanken loslassen heißt, die mit krisenhaften Situationen verbundenen Gefühle wie Freunde betrachten zu können. Sie können dann neue Verbindungen eingehen oder ihr Erscheinen ändern. Der T-Rex macht keine Angst mehr, sondern erinnert daran, wie sehr man gewachsen ist.
Wenn Sie das Thema Emotionen interessiert, können Sie das hier vertiefen:
Wissenschaft
Lisa Feldman-Barett ist eine der einflussreichsten Emotionsforscherinnen weltweit. Sie hat die bisherige Lehre auf den Kopf gestellt und auch die Medizin beeinflusst. Ihre Thesen konterkarieren das ältere Modell von Paul Ekman, auf dem auch einige Coachingmethoden wie Mimikresonanz beruhen. Auch Künstliche Intelligenz wird oft mit dem Modell von Ekman gefüttert. In diesem wunderbaren Video erfahren Sie sehr leicht verständlich, was ihre Theorie aus macht.
Wer lieber liest, findet in meinem Blog eine Zusammenfassung der Theorie von Feldman-Barett.
Auch die Psychologin Susan David beschäftigt sich mit Emotionen. Über ihr Modell der Emotional Agility habe ich hier geschrieben.
Praxis
Zum Thema Emotionen in Gruppen habe ich ein Video aufgezeichnet. Natürlich freue ich mich auch über Abonnenten meines Videokanals.
Den praktischen Umgang mit Emotionen fördert der von mir entwickelte Feedbackfächer, der sich bei Teamworks GTQ findet.
“Ran an die Gefühle” - meine XING-Kolumne gibt 5 praktischen Tipps im Zusammenhang mit Agilität
Emotionen sind auch wichtiges Thema in meinem neuen Buch “Business Showdown”, das Sie bei Amazon oder direkt bei Gabal vorbestellen können.
In unserem Teamworks-Seminaren “Psychologie der Veränderung” und “Nextlevel Coaching” kommt der Arbeit mit Emotionen ein großer Stellenwert zu.
Beitragsfoto: LP /Photocase.de
Mit Emotionen neu anfangen
Danke für diesen wichtigen Beitrag. "Widersprüche atmen lassen" scheint mir eine der großen Herausforderungen unserer Zeit zu sein. Und zeitgleich eine unserer größten Chancen. Ich selbst arbeite aus diesem Grund mit kognitiver Diversität und dem damit verbundenen Nutzen sehr unterschiedlicher Herangehensweisen in der Problemlösung. Widersprüchlich reagiert auch nicht selten unser Körper (z.B. wenn das Gefühl nicht einig ist mit dem Verstand) - dabei hilft mir bewusste Atemarbeit.