Nr. 117 Ich bin vom anderen Stern. Psychische Diversität
Als Kind träumte ich oft davon, von Außerirdischen abgeholt zu werden. Sie kamen und führten mich in ihre farbige Lichtkapsel. Mitten in der Nacht brachten sie mich wieder zurück. Was sie mit mir machten oder von mir wollten, weiß ich nicht. Und nein, sie sahen nicht aus wie Marsmenschen. Sie waren durchsichtig; anders als ich. Ihr Planet hieß Mygan.
Die Außerirdischen wussten alles und sagten nichts
Da ich keine Sportskanone war, verlagerte ich mich früh auf das Kopfgeschäft - oder umgekehrt? Mein Erdkundelehrer, der zufällig auch Sportverantwortlicher bei den Bundesjugendspielen war, beklatschte mich zynisch feixend, als ich als Letzte durch die 100-Meter-Zielmarke lief. Ich war nicht dick, ich war nicht hässlich, und meine Zeit würde kommen, sobald Sprache wichtiger werden würde. So war es mit den Außerirdischen abgesprochen, die nicht sprachen. Und so geschah es.
In der Oberstufe fiel auf, dass ich ziemlich viel ziemlich schnell argumentativ zerlegen konnte. Da ich trotz meines kritischen Denkens ein verbindender Mensch bin, war ich in unterschiedlichen Gruppen akzeptiert. Ausgrenzungserfahrungen machte ich nicht, weil ich alles daran setzte, das Gegenteil einer Musterschülerin zu sein. Und trotzdem meistens doch irgendwie mein Ding machte. Und nicht nur gelegentlich auch in meinen Stärken erkannt wurde. Andere müssen da oft größere Hürden nehmen - und das finde ich persönlich sehr schade. Man findet ihren bunten Regenschirm im Grau nicht, um im Bild zu bleiben.
Anpassen oder “so sein”
Über viele Jahre habe ich mich immer gewundert, warum so wunderbare Menschen einen sprechenden Spiegel in mir suchten. Über meine wunderbare Snyästhetengruppe aus dem letzten Jahr habe ich im Newsletter Nur 79 “Anderssein” schon berichtet (unten verlinkt).
Es gab aber auch viele Einzelberatungen: Da war der Millionenerbe, der eigentlich nur einen einfachen Job wollte. Oder die Professorenanwärterin, die den Blick für ihre Stärken durch jahrelangen Anpassungszwang verloren hatte. Die Medizinstudentin, die von den Eltern getrieben lieber krank wurde als den Abschluss zu machen. Immer wieder waren es gerade auch die kritischen Geister, die den Weg in mein Büro fanden. Die in einem Konzern erstaunt laut feststellten, dass 90% der Zeit gar nicht gearbeitet würde, sie unterfordert seien - und dafür gemobbt wurden.
All diese Menschen sahen nur eine Wahl: Anpassen - oder querschießen. Und beides ist keine gesunde Lösung. Anpassen führt zu Masking: Man tut so, als würde man so sein wie die anderen. Querschießen wird durch Gruppen grausam bestraft.
Ich sehe den enormen gesellschaftlichen Schaden. Aber ich bin optimistisch genug, an passende Wege für alle zu glauben. Vielleicht, weil ich selbst Glück hatte.
Eine Schande, wieviel Potenzial wir verschwenden
Warum erzähle ich das? Gerade komme ich von einer Fortbildung zum Thema "Hoch- und Höchstbegabung" von Frauke Niehues, mit der ich letztes Jahr einen Podcast gemacht habe (findet ihr auch weiter unten mit Links!). Mich beschäftigt das Thema "Unterschiede", weil ich es für wichtig halte, besondere Stärken zu erkennen und Menschen in ihrer individuellen Entwicklung zu fördern. Ich empfinde es als Schande, wie viel Potenzial in Schulen und Unternehmen brachliegt, weil wir als Gesellschaft kein Konzept haben, Fähigkeiten spezifisch zu fördern und einzusetzen. Stattdessen wird „rumgenormt“ – und alle sollen gleich sein. Unterschiede werden rein auf Geschlecht, Ethik, Alter oder Herkunft bezogen. Alles andere wird vor allem in Deutschland gern geleugnet.
Assoziativ oder linear? Unterschiede im Denken
Doch wir sind nicht alle gleich: Was den einen überfordert, ist für den anderen eine belastende Unterforderung. Was für den einen logisch erscheint, ist für den anderen ein quälendes Korsett. So neigen Menschen mit höherem IQ zu assoziativem Denken, während „Normalos“ tendenziell linear denken – die Grafik von Frauke dazu war für mich erhellend. Lineares Denken strengt mich an. Ich tue mich schwer mit Wiederholungen und Anleitungen. Mein inneres Mosaik leuchtet oft an vielen verschiedenen Stellen auf. Ich habe ein Gesamtbild, das andere nicht immer nachvollziehen können.
Falls jemand spekuliert: Ich bin, was den IQ angeht, ungetestet und möchte es auch bleiben. Ich habe keinen Leidensdruck – anders als viele, die ich beruflich und privat erlebt und begleitet habe. Für sie war eine „Diversitätsdiagnose“ – Hochintelligenz oder etwas anderes – eine Erleichterung. Sie lieferte ein identitätsstiftendes Merkmal. Endlich! Endlich weiß ich, warum ich anders bin! Endlich kenne ich den Namen meines Sterns und weiß, dass ich darauf nicht alleine lebe.
Es hat einen Namen:
Hoch- oder Höchstintelligenz
Hochsensibilität
AD(H)S
Autismus oder vielmehr: Autismusspektrum
Synästhesie
…
Aber noch viel wichtiger sind die Menschen vom eigenen Stern – das Wissen, dass es sie überhaupt gibt. Menschen, die zum Beispiel ähnlich schnell denken. Und nicht ständig „abgehängt“ sind. Die ähnlich kritisch denken und unkonventionell ticken, ein weiteres Merkmal von höherem IQ. Ja, man kann die künstliche Grenze von 130 kritisieren, aber sie liefert am Ende eben auch eine Zahl: Nur zwei Prozent leben auf meinem Planeten. Und ja, auch dort gibt es Vielfalt - unendliche sogar.
Oft kommen verschiedene Neurodivergenzen zusammen. Es gibt Hochbegabte, die auch Autisten sind. Unter den Synästheten finden sich viele Hochbegabte. ADHSler oder Hochsensible sind ebenso mitunter hochbegabt.
Das alles sollte aber nicht zu schnellen Kategorisierungen führen, denn:
„Kennst du einen, kennst du einen“, sagt Frauke in meinem Podcast. Ausrufezeichen.
Jeder ist anders
Und so sollten wir auf Unterschiede vor allem mit Neugier und Interesse schauen – aber auch mit Vorsicht vor zu schneller und zu oberflächlicher Kategorisierungs- oder Korrelationsbildung. Oft schadet die Einordnung, weil sie auf Kästchen angelegt ist. Sie fördert Stereotypenbildung: „Ah, so ist jemand, der einen IQ von X hat.“ Leider falsch. Zumal wir Merkmale, die uns nicht bewusst sind, auch gar nicht beobachten können. Stellen Sie sich vor, es gäbe in unserer Welt keine Begriffe für Kreativität. Sie wäre dann auch nicht existent. Wir würden sie vielleicht als auffallend abnormes Verhalten einordnen. Die Dinge existieren, weil wir sie benennen. Was auch erklärt, dass Hochbegabte, die mehr Sprache zur Verfügung haben, allein deshalb schon mehr erkennen.
Mir hat die Fortbildung geholfen, mich selbst zu klären. Seit dieser Woche ist meine „alte“ Website „Karriere & Entwicklung“ wieder online. Ich werde nach längerer Abstinenz neben Teamworks und meinen anderen Aktivitäten wieder in die Privatkundenberatung einsteigen - mit neuem-altem Team. Dabei sind mir vor allem auch Menschen mit besonderen Stärken willkommen.
Braucht es eine Diagnose?
Wann empfehle ich eine Testung? Den IQ-Test meines Sohnes habe ich vernichtet, weil ich nicht wollte, dass er mit einer Zahl herumläuft. Für uns war er dennoch hilfreich, denn er zeigte, dass sein räumliches Verständnis schlechter war als das sprachliche und mathematische. Also lieber nicht Architekt werden. Das wäre für mich ein legitimer Anwendungsfall.
Meine Sorge war, dass eine „Zahl“ zu einem „fixed mindset“ führen könnte – also zur Überzeugung, dass man keine besonderen Lernstrategien und Anstrengungen mehr braucht. Und diese Sorge ist berechtigt: Manche Hochbegabte entwickeln ein fixiertes Mindset und damit die Einstellung „Ich muss nicht lernen“. Ob dies durch einen Test beflügelt wird? Könnte sein.
Auf dem falschen Planeten
In vielen Fällen sehe ich das mit der Testung anders: Etwa dann, wenn ein Mensch ein ausgeprägtes „Wrong-Planet“-Gefühl hat. Der Begriff wird vor allem von Menschen im Autismus-Spektrum verwendet, die die Welt ganz anders wahrnehmen. Während „Normalos“ den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen, sehen sie jedes Blatt.
„Hey, hier sind noch andere Marsmenschen wie du“, kann dann hilfreich zum Aufbau einer gesunden Ich-Stärke sein. Das bedeutet, es kann helfen, sich selbst zu orten und zu verorten. Wir alle haben den Wunsch nach Zugehörigkeit. Dieser führt bei Menschen mit extremen Stärken oft zu einer „Masking-Tendenz“. Sie setzen sich also eine Maske auf, spielen die „Norm“.
In Deutschland haben wir trotz der Diversitätsbewegungen mehr als in anderen Ländern ein Problem mit Unterschieden. Das ist durch unsere Vergangenheit geprägt. Die Nationalsozialisten setzten IQ-Tests und andere psychologische Untersuchungen ein, um Menschen als „lebenswert“ oder „lebensunwert“ einzustufen. Die große Ablehnung von Testungen dürfte auch darauf zurückzuführen sein.
Während Amerikaner kognitive Unterschiede problemlos anerkennen, fällt uns das schwer. Wir assoziieren damit automatisch eine generelle Überlegenheit, die es nicht gibt. Weder setzen sich nur die Klügeren durch, noch garantiert der IQ kluge Entscheidungen. Die Einbeziehung unterschiedlicher Sichtweisen könnte aber hilfreich sein. So unterliegen Autisten weniger Urteilsheuristiken, weshalb ihr Meinungsbild weniger verzerrt sein kann. Bei tiefgreifenden Entscheidungen, würde ich mir persönlich weniger Verzerrung und die Einbeziehung solcher Perspektiven wünschen.
Bei der Diskussion um Diversität werden psychologische Unterschiede weiterhin oft ignoriert - trotz des Booms des Begriffs Neurodiversität. Denn der Begriff „neurodivers“ in Abgrenzung von „neuronormativ“ ist irreführend. Je tiefer wir differenzieren, desto mehr Unterschiede finden wir. Vielleicht ist dann irgendwann niemand mehr normal – oder alle.
Ausblick
Wer das Thema vertiefen möchte, findet jede Menge Material auf Fraukes Portal Können macht Spaß.
Seit dieser Woche ist mein Buch “Veränderungen wirksam begleiten” verfügbar - für alle die in und mit Organisationen arbeiten. Die ideale Begleitlektüre zu meiner Masterclass, die am 19.3.25 startet.
Auch die Ich-Entwicklungsstufe ist ein bisher weitgehend unbekanntes Diversitätsmerkmal ähnlich wie der IQ. Darüber spreche ich in der nächsten Woche in einem Podcast mit dem systemischen Therapeuten Dr. Alexander Leuthold, in einer mit zwei Stunden extralangen Folge.
Termine 2025
Am 19.3. startet meine 3. Masterclass. Informationen hier.
5.-7.3.25 gibt es “Psychologie der Veränderung” für alle, die solche Themen besser verstehen und einordnen wollen - nur noch 1 Platz. hier.
9.-12.7.25 starten wir mit “New Organizing” für alle, die Veränderungen in chaotischen Zeiten begleiten, hier
Am 3.9.25 gibt es Nextlevel Persönlichkeits- und Ich-Entwicklung mit mir in Kattendorf. hier.
Zum Weiterdenken & -Hören
Aktuell gibt es ein Sonderheft zu Neurodiversität bei Spektrum der Wissenschaft, hier.
Anders sein
“Siehst du das genauso wie ich?” Eine verrückte Frage, wenn wir uns das Phänomen der Synästhesie vor Augen halten. Wir fühlen alle anders.
Nur kein Neid
“Neid ist ein Gefühl, das auftritt, wenn jemand Angst hat, in der Ressourcenverteilung zurückzufallen.” Frauke Niehues
Ich bin im Autismus-Spektrum, früher hätte man mich Asperger Autist genannt und habe auch eine Hochbegabung. Was du in deinem Text schreibst, kann ich alles unterschreiben. Wenn du Interesse hast kannst du gerne mal bei mir reinschauen. Da gibt es einen Beitrag der heißt "Asperger Autismus und Hochbegabung". Mich würde mal deine Meinung dazu interessieren. Auf jeden Fall hast du einen neuen Abonnenten gewonnen. 😉