Der heilige Gral im agilen Drama
Newsletter 019 Retter, Opfer, Täter und das Drama-Dreieck der Veränderung
Newsletter 019 Der heilige Gral im agilen Drama
„Das wars. Sie haben uns nicht genug geführt“, beschuldigt der Geschäftsführer das Beratungsteam in der Videokonferenz. „Sie wollten einfach so weiter machen wie bisher“, verteidigt sich dieses. “Ohne Opfer geht es nicht.” Damit meinen sie: Ohne auf etwas zu verzichten. Agilität als “Noch-Dazu” und “Oben-drauf”-Kosmetik.
Scham und Schuld wabern durch den virtuellen Raum.
„Adé“ - aus die Maus, denken die Berater. Auf ein Neues, sagt sich das Team rund um die Managerinnen, in seiner Ablehnung plötzlich vereint.
Solche Szenen zeigen: Was mit Agilität verbunden wird, produziert keine Sachdiskussionen, sondern ein Drama-Dreieck aus Opfer, Täter und Retter. Die verdrängten Akteure Scham und Schuld wechseln dabei die Plätze.
Dahinter steckt ein psychodynamisches Kindertheater, das die Protagonisten der Organisation natürlich nur unbewusst spielen.
Wie die Suche nach dem heiligen Gral
Dieses „Agil-Spiel“ in mehreren Akten ist der Suche nach dem heiligen Gral sehr ähnlich. Denn zunächst weiß keiner, wie der Gral aussieht und was sich dahinter wirklich verbirgt.
Wenn sich dann die Ahnung von Form und Farbe des Grals verfestigt („ah, der Gral sind OKR”), wandelt sich diese wie von Zauberhand in ein Versprechen. Gerne nehmen manche Berater dabei die Rolle eines Merlin ein. Sie sind selbst das große Versprechen, sie haben den Gral.
Und wenn man nicht höllisch mit der Auftragsklärung aufpasst, entfacht sich ein dynamisches Beziehungs- und Kommunikationsmuster, in welchem die Positionen lustig wechseln: Von Retter zu Täter (auch Verfolger genannt), von Opfer zu Verfolger zu Täter. Gruppendynamiken flechten sich ein wie ein roter Faden. Die Gruppe verbündet sich mit dem Haupttäter, in der Regel ein Mächtiger, und sieht sich mit ihm als kollektives Opfer.
Das höllische Aufpassen ist weder für Externe noch Interne leicht. Externe Berater leben von Versprechen. Sie erhalten sich durch sie. Ihre Logik ist Auftrag-kein Auftrag. Interne leben von Status und Identität. Ihre Logik ist, spätestens wenn es hart auf hart kommt Job-kein Job…. (oder auch Anerkennung-keine Anerkennung). Beides ist ein Abhängigkeitsverhältnis, von Augenhöhe keine Spur.
Verführbar sind alle. Wir sind keine Computer.
Das Beraterteam kommt normalweise gern als Retter. „Performt“ die Lösung nicht, geht es in der eigenen Perspektive in die Opfer-Position, während es das Unternehmens als Täter sieht. Es war beispielsweise nicht „reif“ genug für diesen Gral – OKR, Scrum, Spotify, whatever.
Der Grals-Cocktail ist vergiftet
Das Management wiederum sieht sich als Opfer eines vergifteten Grals der Täter, also der Berater. Da war im Grals-Cocktail zu viel Coaching und zu wenig Lösung. Oder der Mix bestand aus zu viel Lösung und zu wenig Coaching. Man wurde nicht abgeholt oder nicht mitgenommen. Das Team wollte nicht. Schuld rotiert.
Lebenslaufdokumentierte Retter-Erfahrung
Viele Agile Coaches kennen sich mit den drei Drama-Ecken meist bestens aus. Sie werden gern geholt, um zu retten. Und wer fühlt sich nicht geschmeichelt, wenn andere auf die eigene, lebenslaufdokumentierte Retter-Erfahrung setzen? Sind wir nicht gerne Artus oder Lancelot, möchten wir nicht alle Heldin sein. Und dann nimmt das Drama seinen Lauf…
Wunderbar, denn so bewahren wir den Status Quo - die bisherigen Machtverhältnisse bleiben unberührt. Ein neues Drama beginnt, mit neuen Playern und wiederholtem heilige-Gral-Denken.
Wenn rettende Ritterinnen aufhören zu kämpfen
Aber es gibt Hoffnung: Die Ritterinnen verändern sich während der Gralssuche. Sie machen Erfahrungen. Und werden im besten Fall gütiger, weiser, erkennen ihre eigene Bedeutungslosigkeit in Zeit und Raum. Sie hören auf zu kämpfen und wollen nicht mehr siegen. Dann kann man reden und hat nichts mehr zu verlieren. Aber meist ist man da schon alt, mitunter auch weiser.
Bewegung entsteht allein durch Menschen.
Es sind neue Begegnungen, die uns Zugänge geben. Es sind starke, spürbare, oft sogar beziehungszerstörende Veränderungen am und im Kollektiv, die bewegen.
Der weltweite agierende Pharmariese Novartis wird 7% seiner Mitarbeiter entlassen, besonders betroffen sind Manager und Marketing/Vertrieb. Es geht eben auch darum, das aufzuweichen, was Veränderung bremst – und dies sind so grausam das klingt, vor allem die bestehenden Beziehungen und deren Geflechte. Nicht nur innerhalb, auch außerhalb des Unternehmens.
Beziehungen geben Halt und Orientierung, aber sie manifestieren das Jetzt und damit die Vergangenheit.
Ich habe viele auflaufen sehen, die den heiligen Gral nicht mal versprochen haben. Es reichte ein Abschnitt im Lebenslauf, der wie ein Versprechen klingt. Doch der Agile Coach oder auch Chief Digital Officer, der im einen System etwas geleistet hat, scheitert dort am System.
Beziehungen manifestieren die kollektive Vergangenheit im Hier und Jetzt.
Die Zukunft aber beginnt mit Bruch und Irritation, mit neuen Beziehungen und Verlust von alten. Sie ist kein nahtloser Übergang.
Zukunftsprediger versprechen viel, aber sie beleidigen die Vergangenheit, bringen Identität ins Wanken und Unfrieden auf die Burg. Die Zukunft kann nicht aus den Beziehungen und Geflechten des vergangenen Jetzt erreicht werden.
Jede Lösung erzeugt neue Probleme, machmal größere als vorher
Lösungen, die ignorieren, dass jede Veränderung neue Probleme erzeugt, reproduzieren Dramen. Lösungen, die sich in Verbalversprechen erschöpfen, verharren in einer schwarzweißen Richtig-Falsch-Attitüde. In dieser drehen sich Täter und Opfer und Retter immer wieder um die eigene Achse.
Ich muss an die Figuren auf einer Spieluhr aus New York denken, die ich meiner Mutter einst geschenkt habe. Sie spielt immer die gleiche Leier, die Figuren drehen sich im Kreis.
Wenn wir das Kreisdrehen im Dramadreieck auflösen wollen, müssen wir anfangen darüber zu sprechen, was Menschen ausmacht. Es ist nicht ihre Fähigkeit logisch zu denken. Sie denken nicht logisch, auch die intelligentesten nicht, weil sie dazu und dabei fühlen, meist ohne es zu merken.
Bestenfalls sind einige weiser - dann versprechen sie wenigstens keinen Gral und spüren, wenn jemand die Gralslogik auf sie projiziert. Dann gehen sie in Beziehung.
Für wirksame Veränderung braucht es die Fähigkeit in Beziehung mit anderen zu gehen. Die haben einige nie gelernt und viele verlernt.
Aber das Gute ist: Es ist nie zu spät. Morgen beginnt heute.
Weiterlesen & mehr von mir
Warum eine Verlangsamung des Denken und Handelns nötig ist, um anschließend wirksamer zu agieren, das zeige ich in meinem Buch Business Slowdown. Wer’s noch nicht hat, hier zum Beispiel ;-)
Zum Drama-Dreieck findet ihr im Internet unendlich viel… Da ich diese Texte selbst nicht gelesen habe, möchte ich hier keine spezielle Empfehlung geben ;-)
In meinem aktuellen Video geht es um psychodynamische Projektionen. Nah dran am Drama.
Modelle wie das Drama-Dreieck helfen beobachtete Zusammenhänge zu benennen. Das Beobachten lernen Teamworks-Teilnehmer in der Ausbildung zur Teamgestalterin.
Alle Termine.
Inspiriert hat mich diese Woche
Das Buch von Thorsten Groth und Gerhard Krejci: New Organizing. Carl Auer 2021.
Das Buch von Lori Gottlieb: Vielleicht solltest mal mit dem jemanden darüber reden. Goldmann 2021.
Eine Freundin, die mir den Tipp gegeben hat, das Handy nachts aus de Schlafzimmer zu verbannen. So simpel, so wirksam ;-)
Foto von wenmei Zhou – istock.com
Die Bewertung der Dynamik als "Kindertheater" wirkt auf mich abwertend. Das schadet der guten Idee, diese interessante Dynamik aus der Metaperspektive zu zeigen... Sonst sehr lesenswert!
das kann ich gut nachvollziehen, vielen Dank für Ihre Einschätzung!