No. 46: Systeme am Rande des Zusammenbruchs
Schmetterlingspuppen haben es gut. In ihnen ist die Veränderung schon angelegt. Sie müssen sich nicht anstrengen. Ihr genetischer Bauplan sagt ihnen, welche Form sie einmal haben werden. Es gibt nur die eine. Originelle Ideen brauchen sie nicht.
Das gern genutzte Narrativ für die organisationale und persönliche Transformation - es entpuppt sich bei näherer Betrachtung als unzutreffend. Wir haben schlicht die falschen Grundannahmen über das, was Veränderung fordert und erfordert. Das wurde mir in den letzten zwei Wochen durch verschiedene Gespräche mit Menschen bewusst, die ich sonst selten treffe.
Arbeitsleistung kritisieren? Unmöglich geworden.
Während in Hamburg die Online Marketing Rockstars sich selbst und die Digitalwelt feierten, verließ ich meine gewohnte Bubble für mehrere Vorträge und privat.
Ich traf in ganz anderen Zusammenhängen als sonst auf mittelständische Führungskräfte, mit denen ich normalerweise wenig Berührungspunkte habe: Ärzte aus Krankenhäusern, Handwerker, Lehrer und Verwaltungsführungskräfte. Deren Problem ist nicht die Skalierung von Agilität oder vielmehr Pseudo-Agilität, wie ich es in Konzernen häufig erlebe. Deren Problem sind die Fachkräfte. Und zwar nicht nur, weil sie fehlen, sondern weil sie nicht wie Schmetterlinge fliegen.
Da war beispielsweise ein Elektriker-Meister mit vollem Auftragsbuch. Ein netter Chef vom Augenschein. Aber objektive Kritik an seinen Mitarbeitenden darf er nicht mehr üben - am nächsten Tag seien die Leute krank.
30% mehr Gehalt müsse er im Vergleich zum letzten Jahr zahlen, damit überhaupt jemand bleibt. Bindung? Identifikation? Es gehe nur noch darum, wer die besten Arbeitsbedingungen biete und möglichst wenig Stress macht. Erwarten könne man nichts mehr. Nicht mal, dass die Leute regelmäßig zur Arbeit kämen.
Er denkt über das Aufhören nach. Freude mache das alles nicht mehr.
Aufnahme folgt, jetzt gehe ich erst mal wandern :-)
Babyboomer: Die letzte Bastion im Büro
Ärzte berichteten mir von ihrer letzten Bastion in den Praxen und Krankenhäusern: Fleißigen Babyboomern, deren Leben die Arbeit ist und war. Wenn diese Boomer mal weg seien, würde der Betrieb absehbar zusammenbrechen. Diese Leute machten auch das Unsinnige mit, etwa die Prozessorientierung, bei der der Mensch ein kalkulierter Prozessschritt ist. Aber der Anteil derjenigen, die sich trotz dieser sinnlosen und wenig singstiftender Rahmenbedingungen reinhänge, der schrumpfe. Und wenn der Sinn geht, dann kommt das Geld… mit dem man sich Sinn anderswo oder später kaufen kann.
Die Ärztin sagt Ähnliches wie die Handwerkermeisterin: Den am Arbeitsmarkt gefragten Kräften Feedback zu ihren Leistungen zu geben, sei schwierig. Alle wollten zwar Augenhöhe. Feedback und Selbstkritik schließe das aber aus. Das gelte als übergriffig, gar autoritär.
Im Bewusstsein des Alternativenreichtums sinkt klar die Bereitschaft an sich zu arbeiten.
Aber ohne Feedback, ohne die Spiegel der anderen, bleibt der Mensch in seiner Puppe. Er fliegt nicht, denn seine Entwicklung braucht die anderen. Ein “growth Mindset” kann nur im Kontext von Lernbegeisterung reifen. Und die fehlt.
Der personelle Notstand verbietet Grundsatzfragen
Der Personalnotstand verbietet jede Grundsatzfrage, etwa die, ob jemand überhaupt für den Beruf, etwa eines Lehrers geeignet ist.
Ich höre von Schülern, die seit sechs Wochen keinen Matheunterricht hatten, was die Schulleitung gar nicht mitbekäme. Höre von selbstüberzeugten Erzieherinnen, die keinerlei Selbstzweifel haben und um die Bildung ihrer Kinder besorgte Eltern bezogen auf die digitalen Medien belehren.
Und dann wieder von völliger Überforderung vor dem Hintergrund der Frage, wie Digitalisierung in bürokratischen und funktionalen Strukturen mit diesem Personal funktionieren soll. Wie soll neues Leben in erstarrte, erodierende Systeme?
Das Personal, so sagen einige, will nicht nur kein Feedback - es ist auch nicht besonders gut gerüstet für die Arbeitswelt. Kompetenzen fehlen. Und eben selbst das Interesse, diese zu erwerben.
Immer mehr Bürokratie, nicht weniger
Derweil häuft sich die Arbeit bei denen, die sich noch verantwortlich und verpflichtet fühlen. Wo die Verordnungen früher neun Seiten umfassen, sind es jetzt 120, verrät mir jemand aus der Verwaltung. Da werde immer mehr unsinnige Arbeit produziert und immer weniger Lösung. Auf Komplexität wird mit Kompliziertheit geantwortet.
Auf Komplexität wird mit Kompliziertheit geantwortet.
Mich haben die Gespräche auf den Boden der Tatsachen zurückgebracht. In meiner Bubble gibt es eine Schieflage. Die Menschen, die unsere Gesellschaft erhalten, kommen darin so gut wie gar nicht vor: Die Infrastruktur, das Bildungswesen, das Gesundheitswesen und die Pflege.
Deren Transformation ist entscheidend für den Wirtschafts-Standort Deutschland, überlebenswichtig. Wenn diese Transformation nicht gelingt, dann werden die, die es können gehen. Es geht dabei um Menschen, die oft nicht ins Homeoffice können, weil sie vor Ort arbeiten. Die sich deshalb auch nicht in den Süden oder mal eben nach New York verziehen können.
Unser Wohlstand hängt nicht nur an der vor Ort florierenden Wirtschaft. Er hängt an denen, die den Betrieb für die Wirtschaft sicherstellen. Denn wenn der nicht funktioniert, werden immer mehr ins Ausland gehen. Die Grenzen sind offen für die, die Englisch sprechen.
Das, was Deutschland stark gemacht hat, funktioniert nicht mehr. Bürokratie verhindert Transformation. Die Abwanderung gut ausgebildeter Kräfte könnte ungeahnte Dimensionen annehmen. Es gehen immer mehr nach Zypern, Montenegro, Portugal, Spanien… Auch ich bin mit halbem Bein raus. Und entscheide mich immer öfter, nicht mehr in Deutschland zum Arzt zu gehen. Und dort treffe ich sie wieder: Ärzte, die nicht mehr in Deutschland praktizieren wollen.
Wir missverstehen, dass es nicht um ein bisschen Kulturwandel geht, sondern um neue Strukturen. Ich habe keine Lösung, wenn ihr mich jetzt danach fragt.
Aber mir fällt zum einen die Verschlimmerungsfrage ein: Was müsste passieren, damit sich das alles noch weiter zuspitzt? Und als Optimist will ich auch den Blick auf Muster des Gelingens werfen. Wo sind sie und wie können wir sie den anderen sichtbar machen?
Habt ihr sie gesehen? Teilt sie mit mir und denen, die das hier lesen.
Weiter: Lesen, Sehen & Hören
Ökonomen sprechen tatsächlich von einer Erosion des Fleißes, so Thomas Mayer von Flossbach Storch. Hier zu lesen.
Mein Buch “Mach dich frei” ist jetzt vorbestellbar.
Ich habe ENDLICH mit Christina Grubendorfer vom LEA Podcast gesprochen, ganz locker und entspannt über “Agile Irrtümer”, aber auch ein wenig über Gott und die Welt - und unsere gemeinsamen Beobachtungen. Hier könnt ihr das hören.
Inspiriert hat mich diese Woche
“Seid achtsam mit der Achtsamkeit”. Eine Studie zu Achtsamkeit vom Lüneburger Sozialpsychologen Simon Schindler weist darauf hin, dass achtsame Menschen sich weniger sozial verhalten könnten. Achtsamkeit, Mindfulness gilt in der Psychologie als Technik und auch als Eigenschaft (trait). Menschen, die diese Eigenschaft haben, können sich zum Beispiel leichter von den eigenen Gedanken distanzieren. Das bewirkt aber auch, dass sie sich leichter aus emotionalen Situationen herausziehen können. Sie sind dann möglicherweise weniger involviert. Das könnte dazu führen, dass etwa eine Führungskraft leichter mit Kündigungen umgeht. Nicht immer ist das wünschenswert, denn so ist man auch weniger berührt. Ähnliches könnte der Fall sein, wenn man notleidenden Menschen begegnet. Mehr dazu im Human Resources Manager.
Wieder mal ChatGPT: Der hat meinen StärkenNavigator derart gut von anderen Systemen abgegrenzt, dass ich mehr als verwundert bin. Lest selbst.
Und dann hatte ich zwei schöne Videodrehtage mit einem tollen Set-Team. Daraus werden Videokurse entstehen, denn ich gründe eine neue Akademie für Veränderungsbegleitung. Mehr dazu: bald.
Offene Termine
Mit Emanuelle Quintarelli bin ich Keynote Speaker auf der Agile World in München. Thema “From Hierarchies to Ecosystems”. Hier findet ihr Infos. Geht auch um Haier.
TeamworksPLUS Gruppe 15 hat noch einen Platz. Wir freuen uns auch auf Anmeldungen zu Gruppe 16 Info
Ich merke, dass einige sich fragen, ob sie die Voraussetzungen für die Summer School New Organizing haben. Ihr könnte mich dazu gerne fragen ;-) Hier findet ihr Infos zur Summer School Organisationsentwicklung und zur Masterclass Nextlevelcoaching im Herbst.
Und dann nicht vergessen: Nextlevelcoaching im Herbst. Hier wollen wir uns mit aktuellen Herangehensweisen im Kulturwandel und Coaching beschäftigen. Über die ganzen fünf Tage arbeiten wir mit Spiral Dynamics. Big Five und Ich-Entwicklung beziehen wir auch ein. Ideal auch, um eigene Themen im Kontext der eigenen Organisation zu bearbeiten.
Alle Termine.
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Mir folgen?
Beitragsfoto: Andrea Piacquadio
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Selbstehrlichkeit, Selbstreflektion und Selbstkritik - ich denke darum geht es und zwar für uns alle. Wenn ich als Chef an den Angestellten verzweifel (die keine sinnlosen Prozessorientierung mehr betreiben wollen), dann kann ich das dem Arbeitnehmer zuschieben oder ich kann da anfangen wo ich wirklich was ändern kann - bei mir. Ich kann mich hinterfragen und auch meine eignene Sinn oder den des Unternehmens - wer heute z.B. noch Gewinn als Unternehmenssinn sieht, hat ein Problem und zu Recht. Der Sinn muss immer sein: Kundennutzen (und ja, dafür ist Gewinn ein notwendiges Element, denn ohne gibt es auf Dauer auch keinen Kundennutzen - aber er ist Mittel zum Zweck/Sinn nicht Selbstzweck/sinn). Dasselbe gilt aber auch umgekehrt: Wenn der Chef mich kritisiert oder Rahmenbedingunge schafft oder aufrecht erhät, die mir nicht entsprechen, dann kann ich ihm die Schuld geben oder mich hinterfragen: Was mache ich hier? Und warum? Will ich einfach nur möglichst easy möglichst viel Kohle rausholen (wieder der Gewinn als Sinn) oder gehe ich den unbequemen Weg für eine Beschäftigung zu sorgen, die mir wirklich entsrpicht und die mich erfüllt? Für mich sieht es so aus, als ob sich genau die richtigen finden - die Mittel zum (Gewinn)zweckler (mit den Schuldzuweisungen zum anderen) aber auch die, die gmeinsam etwas auf die Beine stellen wollen - so dass jeder das tut was ihm entspricht, für eine Sache, die allen Beteiligten wichtig ist - und die gibt es und die leben Selbstehrlichkeit, Selbstreflektion und Selbstkritik, weil es ihnen auf Dauer besser damit geht, auch wenn es erstmal anstrengender oder sogar schmerzhaft ist. Das ist für mich das was es mehr braucht und somit auf Dauer auch „die Lösung“ - mehr bei sich ankommen und das auch leben. Egal ob Chef ider Angestellter oder sonst was. Bis das in breite Masse passiert wird es noch dauern, aber auf Dauer kommt keiner drum rum, meiner Meinung nach - dafür sorgt die Verschlimmerung, die von ganz alleine passiert.
Sehr geehrte Frau Hofert,
ich bin vor kurzem auf Ihr Buch "Hört auf zu coachen" gestoßen und habe es direkt gekauft, weil ich es interessant fand. Vielen Dank für Ihre Gedanken, da ist eine Menge dran.
Die Verschlimmerungsfrage kann ich Ihnen beantworten. Wir müssen gar nichts machen, das kommt automatisch. Man tut alles dafür, dass es eintrifft. Die einen durch Lethargie, die anderen Kraft ihres Amtes.
Grüße