Newsletter 027: Stereotype und die Kunst, Dinge sichtbar zu machen
„Schauen Sie doch mal um sich“, flüsterte mir der mittelalte, weiße Mann ins Ohr. Wir waren vor einer Veranstaltung in Süddeutschland ins Gespräch gekommen. „Das ist doch wieder typisch. Lauter alte weiße Männer. Wie soll sich da was ändern?“ Im Publikum: Aufsichtsräte, CEOs und CFOs, 90% männlich. Seit langer Zeit hatte ich hier mal wieder intuitiv in den „Sie-Modus“ geschaltet.
Mir war unwohl bei der pauschalen Verurteilung. Ich habe eine Abneigung gegen Stereotype, vor allem wenn sie so offensichtlich sind.
Stereotyp als Abwehrmechanismus
Der Begründer des Begriffs Stereotyp Walter Lippmann deutete dieses als einen Abwehrmechanismus. Dieser Abwehrmechanismus verhindert die Detailerfahrung. Wenn ich alle und alles über einen Kamm schere, spare ich Denkkapazität.
Stereotypen schützen uns vor den Mühen der Detailerfahrung
Die Mühen der Detailerfahrung nehme ich meist ganz gerne auf mich. Mir sind auf dieser Veranstaltung sowie auch zu anderen Gelegenheiten Top-Manager begegnet, die sich und ihre Grundannahmen durchaus in Frage stellen.
Zumindest in meiner „Bubble“ sind einige unterwegs, die es ernst meinen, auch mit dem eigenen Wandel. Der Veranstalter besagter Veranstaltung hatte immerhin neben mir noch eine andere weibliche Referentin geladen - was selten vorkommt, wenn es um Wirtschaft geht.
Und mit den Eingeladenen ist es so eine Sache… die Frauen im Top-Management kleiner und mittlerer Unternehmen sind nach wie vor eine Seltenheit. Offensichtlich gerade auch im Süden. Auch das ist natürlich (m)ein Stereotyp.
Stereotypen beruhen auf Kollektiverfahrung
Stereotypen entstehen nicht ohne Grund. Sie beruhen auf einer Art Kollektiverfahrung. Sie erzeugen Bilder im Kopf. Wir brauchen nur Fotos zu sehen, um zu erkennen: Ah, Top-Manager. Das sind die mit den grauen Anzügen und der Krawatte, Ü45 und so gut wie immer weiß.
Die wenigsten Betroffenen halten sich im Übrigen selbst für ein Stereotyp. Manche ordnen auch neue Dinge in bekannte eigene Denkkästchen. Mitunter dienen dazu sogar Fakten, die der eigenen Überzeugung eigentlich widersprechen.
Ein Beispiel: Ein Manager will Talente durch eine bestimmte selbst ausgedachte Frage erkennen, mit der er „schon immer“ erfolgreich die Spreu vom Weizen getrennt hat. Das sortiere ich jetzt nicht in die Kategorie “Infragestellen eigener Grundannahmen”. Und doch wird es genau so gesehen. Das ist die Selbstbestätigungstendenz, sie macht viele Informationen einfach platt.
Man sieht nur, was man sieht
Manche wirken total aufgeschlossen gegenüber neuen Themen. Die alten weißen Männer sind immer die anderen. „Man kann nur sehen, was man sieht“, pflege ich im Gespräch an dieser Stelle zu sagen.
Und füge hinzu: Solange man mit seiner Vorgehensweise in seinem Umfeld andocken kann, gibt es ja auch kein Problem… „Ah, aber - Sie wollen andere Leute, die Informatiker, die aus Berlin? Na, dann gibt es das vielleicht doch.“
Es gibt auch stereotypisch gelöste Probleme. Diese sind fast immer kontraproduktiv für mittel- und langfristige Lösungen. Wichtige Wählergruppen goutieren beispielsweise das Versprechen, dass das Rentenalter nicht erhöht wird. Dabei weiß jeder mit halbwegs Verstand, dass wir das Problem immer größer werden lassen. Wie den Klimwandel.
Vielleicht ist aber auch der parteipolitisch gefärbte Wähler ein Stereotyp. Den Fachkräftemangel mit einer Erhöhung der Recruitingausgaben zu begegnen - auch das ist stereotypisch. Ich höre von Fällen, da ist die ganze frühere Personalentwicklung jetzt Recruiting.
Stereotypen sind wie das Patentrezept
Stereotypen vereinheitlichen. Sie sind wie das Patentrezept. Sie funktionieren nur, wenn man nicht weiter hinguckt. Stereotypische Vorstellungen gibt es auch von Mitarbeitern. Manchen Mitarbeitern sei das Versprechen wichtig, dass es das Unternehmen in 10 Jahren noch gibt, höre ich öfter von Führungskräften.
Aber wohin und wozu führt ein solches Versprechen? Denken wir an Kodak und all die Unternehmen, die es bald nicht mehr gibt: Keiner glaubt wirklich, dass für einen selbst das Ende naht. Gerade Top-Manager unterliegen der Kontrollillusion, der falschen Annahme, Ereignisse durch eigenes Verhalten kontrollieren zu können.
Könnte es sein, dass wir Spaltung zulassen müssen?
„Könnte es sein, dass wir Spaltung zulassen müssen?“ frage ich gerne in meinen Reden. Ich meine damit die Spaltung der Arbeitswelt. Das irritiert oft die, die in einem Fachkräfte-Dilemma stecken. Dabei geht es meist um den Neid der Produktionsmitarbeiter auf die „remote“ IT— und Verwaltungs-Elite. Ich antworte dann, dass man auch auf Unterschiede auch stolz sein kann. Neid und Stolz liegen sowieso nah beieinander. Es sind kulturell erzeugte Emotionen.
Neid oder Stolz sind kulturell erzeugte Emotionen
Ob es eher in Richtung Neid oder in Richtung Stolz geht? Den Unterschied macht Führung. Führung – und zwar als Kunst, etwas sichtbar zu machen, was vorher nicht sichtbar war. Aber mit Emotionen tun sich viele ja schwer – darum geht es auch in meinem aktuellen Podcast bei Ich-Wir-Alle (siehe Kasten).
Mein Gesprächspartner, mit dem ich diese Kolumne begonnen habe, wollte von mir wissen, was mein eigener Hintergrund sei. „Jetzt denken Sie aber nicht, ich sei aufgrund der Psychologie ohne Ahnung von Wirtschaft”, sagte ich. “Oh nein, ganz im Gegenteil”, erwiderte er – und erzählte, er habe sich bereits mit dem Thema auseinandergesetzt, unter anderem in einer systemischen Ausbildung. Das war dann wohl eher mein Stereotyp.
Stereotype haben durchaus auch positive Seiten, da sie unser Gehirn entlasten. Komplett stereotypfrei durchs Leben zu gehen, ist sowieso unmöglich. Aber hilfreich ist, wenn Stereotype locker genug sitzen. So dass wir sie leicht ablegen können. Bilder können da viel bewirken. Deshalb habe ich mich gegen das Bild-Stereotyp entschieden.
Weiterlesen & mehr von mir
Bei Youtube starte ich eine Serie über die Gesetze der Gruppendynamik. Der erste Teil ist “In und out” und beschäftigt sich z.B. mit inneren Zirkeln. Video hier
Hörbar bin ich nun schon zum zweiten Mal im beliebten Podcast von Martin Permantier. Es geht um eines meiner Lieblingsthemen, Veränderung und Emotionen. 70 Minuten Zeit nehmen.
Für Neulinge vom Thema Gruppendynamik gibt es hier einen Beitrag.
Den Intelligenzbeitrag von letzter Woche habe ich für XING noch etwas spezieller aufbereitet.
Inspiriert hat mich diese Woche
Lauter Menschen, die sich für den Wandel engagieren und Ideen haben :-)
Das Hörbuch zu “Chatter. Die Stimme in deinem Kopf” von Ethan Kross. Wenn ich es auch Richtung Ende etwa platt fand. Das Thema psychologische Distanzierung ist wichtig. Da mach ich noch was tun. Erster Tipp: Sprich nicht von dir selbst als “ich” :-)
Offene Termine
Am 2.12. halte ich auf dem internationalen Management-3.0 -Kongress eine Keynote (Hybrid): “Connecting Dots”. Hier könnt ihr euch anmelden.
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Beitragsbild: Cylibi by stock.com
"Mit Stereotypen locker umgehen", Danke für diese Aufforderung, die für mich das passende Framing für den Artikel darstellt.
Denn Stereotype können ja durchaus auch auf vorhandene systematische Missstände hinweisen, wie eben die immer noch sehr homogene Besetzung von Führunspositionen durch alte, weiße Männer. Klar, mit diesem Stereotyp des alten, weißen Mannes wird eine Geisteshaltung unterstellt, die nicht allen (vielleicht sogar nur den wenigsten) gerecht wird. Zum Stereotyp gehört aber nicht nur eine Annahme über eine Geisteshaltung, sondern auch über die kollektive (gesellschaftliche, kulturelle) Wirkung dieser homogenen Gruppe von Führungskräften. Und erst dadurch wird es möglich, eine kollektive Gegenbewegung zu starten. Insofern sind Stereotype notwendig, denke ich. Daher nochmal Danke für den Wunsch oder die Aufforderung, locker mit Ihnen umzugehen - und zu vermeiden, Stereotype stereotyp als absolut richtig oder absolut falsch einzuordnen.
Top Beitrag! Stereotype entlasten das Gehirn weil sie nicht kognitive Ressourcen belegen, helfen aber keine Probleme lösen. Toller Beitrag, sehr guter Gedenkenanstoß! Danke !