Wir brauchen viel mehr Größenwahn
Newsletter 023: Dunkelzeit, Veränderungstheater und funktionale Selbstüberschätzung
Newsletter 023: Dunkelzeit, Veränderungstheater und funktionale Selbstüberschätzung
Schaffen wir das? Kriegen wir den Stein zum Rollen?
In vielen Organisationen stockt derzeit selbst das jahrelange betriebene Veränderungstheater. Die alltägliche Krisenbewältigung rückt ins Zentrum, langfristiges Denken in den Hintergrund. Dass Augenhöhe und agile Kosmetik keine Lösung für fehlende Innovationskraft sind, langsam wird es offensichtlich.
Die Erkenntnis: Was fehlt, sind nicht Methoden, sondern eine weitsichtige, mutige und gestaltungsfreudige Führung, die einen Rahmen schafft, in dem Ideen und Menschen wachsen können. Derweil blockieren die bisherigen Rolleninhaber die Lebensadern für Produktivität - sei es durch veraltete Expertise, Unsicherheit oder schlicht Inkompetenz.
Kleindenkendes Management schreckt vor Weichenstellung zurück
Der Grund sind nicht nur mehr starre hierarchische Strukturen, sondern auch das genaue Gegenteil, welches ebenso innovationstötend wirkt: Ein Harmoniekult, in dem ein kleindenkendes Management in Hochachtung hohler Begriffe wie „Selbstorganisation“ vor mutiger Weichenstellung zurückschreckt.
Das öffentliche (Vor-)Bild macht auch wenig Hoffnung: Die Mitarbeiter im Wirtschaftsministerium am Rande des Burnouts, die Politik angesichts der Energiekrise gefangen in Ratlosigkeit.
Nicht nur den Konditoren droht der Untergang – der gesamte produzierende Mittelstand ächzt. Viele wollen Rettung, aber wer soll das bezahlen? Wir bewegen uns immer schneller in eine deindustrialisierte Dunkelzeit mit unhaltbaren Sozialversprechen - und vermutlich auch Armut angesichts der europaweit niedrigsten Eigentumsquote. Und unser Blick ist dabei weiterhin nicht auf Lösungen gerichtet, sondern auf Besitzstandswahrung.
Aber: Woher sollen die überdurchschnittlich hohen Gehälter hierzulande kommen, wenn nicht mehr aus der Industrie? Was wird aus der Dienstleistungsbranche ohne ihre finanzstarken Auftraggeber? Die Innovationskraft für die erneuerbaren Energien hat unsere Politik durch den Stopp der Förderung schon vor 10 Jahren den Chinesen in die Arme getrieben.
Sind wir gut genug in Robotik? Welche Branchen haben Potenzial groß zu werden, wenn andere verschwinden? Welche Gründe gibt es für Top-Talente, ausgerechnet Deutschland als Schaffensort zu wählen?
Digitalisierung schwimmt derweil völlig unter dem Radar: Wenn Digitalisierungsminister Volker Wissing unter die Top-10 in Europa will, dann hört sich das eher verzweifelt als ambitioniert an.
Wer sich nicht mal hohe Ziele setzt, landet schon beim Abflug. Svenja Hofert
In den letzten Jahren haben die Achtsamkeitswelle, New Work und der Fachkräftemangel den Blick auf das verstellt, was sich lange abzeichnete: Die notwendige Neupositionierung des Standorts Deutschland, fehlende Innovationskraft, falsche politische Weichenstellung und in Wirtschaft wie Politik oft stümperhafte Vorstellungen von Digitalisierung.
Es fehlen Ideen, nicht nur im Produktbereich
Es fehlt aber nicht nur an Produkten und Geschäftsideen, sondern auch an Ideen für die Art und Weise, wie wir an Lösungen arbeiten. Zu sehr bindet die Routine und die akute Krisenbewältigung. Da beschäftigt man sich ungern mit Dilemmata wie der Frage wie man damit umgeht, dass das aktuelle Geschäft Umsätze bringt, das neue jedoch (noch) nicht. Lieber ein Zwei-Tages-Kurs Agilität, der diese Probleme gewiss nicht löst.
People & Culture statt Ideen & Bewegung
Personalabteilungen sind wie ich höre fast nur noch mit Recruiting beschäftigt und richten den Blick darauf, es mit „People & Culture“ allen möglichst schön zu machen – weniger aber darauf, an Bedingungen mitzuwirken, unter denen radikal neue Gedanken eine Chance haben.
Und diese betreffen, ich muss es immer wieder sagen, die Art und Weise wie man zusammen streitet und psychologische Unterschiedlichkeit nicht zur Blockade, sondern zur Chance werden lässt. Immer wieder sehe ich, dass Experten mit viel Know-how es einfach nicht schaffen, miteinander so zu reden, dass das Gespräch auf Wissens- und Erkenntnismehrung zielt und nicht auf eine Sortierung in Richtig- und Falsch-Kästchen.
Und das hat oft nur einen einzigen Grund: Man redet aneinander vorbei, weil wir nicht gelernt haben zu reden, ohne den anderen zu bewerten. Und all die falschen Eitelkeiten: Man hält es nicht aus, dass der andere die coole Idee hat und man selbst „nur“ einen Rahmen schafft. Jede Neudefinition von Rollen wird zur Identitätskrise.
Die Innovationsforscherin Katharina Hölzle, die ich im Kasten mit einem Video zitiere, nennt das, was vor ihren Augen passiert Innovationstheater. In diesem hält das Management in seinen alten Denkmustern fest, verändert und wagt nichts - außer ein bisschen Agilen Methodenzauber.
In manchen Firmen sitzen verunsicherte, hochkompetenten Experten, die auf Agilität hoffen als wäre es Merlins Zaubertrunk. Und wenn dann harte Arbeit am eigenen Selbstverständnis und die Notwendigkeit der Überarbeitung eigener Grundannahmen rauskommt, sind sie enttäuscht.
Aber: Wer sich nicht mal hohe Ziele setzt, landet schon beim Abflug.
Und da komme ich zum Größenwahn. Die Hybris hat einen schlechten Ruf, der Begriff wird ausschließlich negativ verwendet. Das sollten wir Überdenken. Denn wahr ist auch: Wer sich selbst überhöht, traut sich mehr zu.
Realismus löst keine Weltprobleme
Allein das Vorangehen kann Bewegen. Denn wenn die Größenwahnsinnige größenwahnsinnig genug ist, holt sie sich Leute und treibt voran. Ihr „Narzissmus“ ist dann funktional, er nützt allen. Aber mit Narzissten muss man umgehen können. Und die Lösung ist nicht, ihnen ihre Grenzen aufzuzeigen. Die Lösung ist, sie ins Spiel einzubinden, damit dieses für alle siegreich ist (siehe dazu mein Wochenvideo, verlinkt im Kasten).
Dabei müssen wir verstehen, dass Zukunft nicht ist, sondern durch Entscheidungen der Gegenwart entsteht. Und dass Mehrdeutigkeit das Normale ist. Dass Größenwahn Raum und Kontrolle zugleich braucht. Wenn alle mit sich im Reinen sind, geht nichts voran. In Beamtenschlaf und Homeoffice-Träumen versandet die Umsetzungskraft derjenigen, die unzufrieden sind.
Denn es gilt einerseits:
Wer ausbalanciert ist, hängt sich nicht rein: Yoga, Achtsamkeit, Empathie - alles schön und gut. Aber wer zieht den Karren aus dem Dreck, rollt den Stein beiseite? Das tun Menschen, die die innere Balance nicht anstreben. Nur sie opfern alles - Partnerschaft, Familie, Privatleben, Zeit.
Wahnsinn und Genie gehören zusammen: Eine überdurchschnittliche Wirkkraft entsteht immer aus einer inneren Schieflage, die am Rande des Krankhaften ist.
… und andrerseits:
Kraft braucht Richtung: Damit die überschießende Energie zum Guten gelenkt wird, muss die gute Zukunft in den Fokus rücken. Den Fokus setzen - das können ja die mit der inneren Balance tun. Gerade die müssen aber lernen auszuhalten, dass sie die “Ver-rückten” nicht kleiner, sondern größer machen sollten.
Ideologie ist ein Bremser: Wer Werte ideologisch interpretiert, hält Veränderung auf. Die wahre Tugend liegt oft eher darin, die Werteverletzung in einem mehrdeutigen Spiel auszuhalten – und den richtigen Schachzug nicht im Moralappell zu sehen.
Nicht Kleindenken, Großdenken wird das Thema der nächsten Jahre sein. Und das bezieht sich auf alle Ebenen.
Dabei müssen wir akzeptieren, dass in diesem Spiel zwischen Schnelligkeit und Langsamkeit einige Menschen auf tiefe, eigene Reflexion verzichten wollen – und das okay ist. Der Wahnsinn muss nicht immer geheilt werden. Jedenfalls nicht jetzt in diesen bewegten Zeiten, die so viel Bewegung brauchen.
Was meinen Sie?
Weiterlesen & mehr von mir
Wer sich für die dunkle Triade der Macht interessiert: Mein Blog-Klassiker von 2015. Stellt die Sonnen- und Schattenseiten dar.
Wie man mit Narzissten umgeht und etwas Ein- und Abgrenzung zusammen mit praktischen Tipps in meinem Video “Hilfe, Narzisst im Team”.
Inspiriert hat mich diese Woche
Der Podcast von der Welt “Alles auf Aktien” mit Daniel Stelter. Ein wunderbar kompetenter Rundflug durch die Wirtschafts- und Finanzgeschichte der letzten 20 Jahre. Sehr pessimistisch, aber humorvoll und kompetent. Findet ihr bei allen Podcast-Anbietern.
Ein kurzes Video der Innovationsforscherin Katharina Hölzle, das auf den Punkt bringt, woran es mangelt.
Die Menschen, mit denen ich im Rahmen meiner Ausbildungsgruppen arbeite. Sie zeigen mir, welche Kräfte man freisetzen kann, wenn man beginnt, die Welt und sich selbst mit anderen Augen zu sehen.
Termine
Am 20.10. abends halte ich einen Impulsvortrag auf einer Veranstaltung von Rochus Mummelt in Stuttgart. Zielgruppe sind höhere Führungskräfte. Die Keynote hält Katharina Hölzle. Wer eingeladen werden möchte, kann mich gern anschreiben.
Am 2.12. halte ich auf dem internationalen Management-3.0 -Kongress eine Keynote (Hybrid): “Connecting Dots”. Hier könnt ihr euch anmelden.
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