Wieviel Bindung braucht der Mensch?
No. 33 Demografische Katastrophen, erodierende Bindungen und die Gefahr der Arbeit in Familienunternehmen
No. 33 Demografische Katastrophen, erodierende Bindungen und die Gefahr der Arbeit in Familienunternehmen
Wir drei vom Teamworks “Management Board” waren auf dem Weihnachtsmarkt. Da haben wir Flammkuchen gegessen. Das hat uns verbunden und die Stimmung gehoben. Denn wir sehen uns immer seltener. Ich bin kaum noch im Büro in Hamburg. Entweder reise ich durch Deutschland oder ich bin in Spanien.
Ich liebe die Abwechslung, das Kreative.
Ein spontaner Trip geht aber immer. Und so war das mit dem Weihnachtsmarkt auch nicht geplant. Er hat Nähe geschaffen, da war was Kuscheliges. So kuschelig, dass wir uns den letzten Flammkuchen geteilt haben.
Bindung erodiert und demographische Katastrophen nahen
Die Bindung in und zu den Unternehmen erodiert. Und der Verlust ist nicht zu kompensieren. So sprechen manche nicht mehr nur vom demografischen Wandel, sondern von der demografischen Katastrophe. Es klingt nicht nur bedrohlich, das ist es auch.
Bisherige Klebemechanismen versagen. Die alten Bürobauten halten sich zwar noch, aber sie bleiben leer. Durch viele verschwendete Quadratmeter bin ich in den letzten Wochen gegangen. Da war jede Menge Leere, hier ein Mensch, da ein Hund.
Schaute ich aus dem Fenster unseres Büros in der Ferdinandstraße sah ich einsame Tannenbäume und wenige Laptops. Merke: In der Innenstadt rund um den Jungfernstieg gibt es keine Wohnungen, es sind alles Büros.
Wo findet derzeit die Bindung statt?
Zeigt ein Weihnachtsmarkt nicht viel mehr, was Menschen anzieht als ein Büro? In der Videokolumne „Auf ein Glas mit Lars“ empfiehlt Intrinsify-Mitgründer Lars Vollmer Reißaus vor dem Familiären zu nehmen. Weihnachten mit der Familie mag er auch nicht, was ich nicht mehr verstehe, seit mein Sohn aus dem Haus ist. Ich freue mich, wenn er kommt. Lars meint, Bindung sei gefährlich. Und ein Hort der gefährlichen Bindung ist das Familienunternehmen.
Familienunternehmen als Hort der gefährlichen Bindung
Ich sehe, dass das einerseits stimmt. Und andrerseits für diese Familienunternehmen aber überlebenswichtig ist. Ohne diese Bindung brechen unsere Systeme zusammen, die organisationalen, aber auch die psychischen. Der erwachsene, reife, sachliche Mitarbeiter ist eine Wunschvorstellung der von familiären Neurosen Ge- und oft auch aus den Unternehmen Vertriebenen. Ich meine: Der Berater (innen). Ich schließe mich ein.
Unternehmen sind darauf ausgelegt, Ersatzfamilien zu schaffen. Mit allen Konsequenzen. Sie dienen der Wiederholung kindlicher Traumata, aber auch der Nachreifung. Hier könnte Hans lernen, Konflikte produktiv zu bewältigen, die Hänschen immer vermieden hat. Oder sich als Arbeiterkind beweisen und Neurosen abbauen. Vielleicht sogar den Muttikomplex ablegen.
Unternehmen bilden familiäre Strukturen nach.
Der Chef als Vaterersatz, die Kollegen als Kopie der heimischen Verhältnisse oder deren bessere Form. Unternehmen kompensieren und ermöglichen auch die Neudeutung von sich selbst. „Hier, endlich, kann ich zeigen, wer ich bin.“
Viele Menschen haben Nähe am Arbeitsplatz gesucht. Dort war die Ersatzfamilie. Eine Näheorientierte Kultur prägte sowohl kleine als große Firmen. Wenn meine Mitarbeiterin mir sagt „ich lass euch doch jetzt nicht hängen“, rührt mich das sehr. Ich weiß aber, dass das genau die Form der Bindung ist, die gerade erodiert. Es ist auch das, was Lars Vollmer für so gefährlich hält. Denn man kann es ausnutzen. Gar nicht mal bewusst. Wir sind eben eine Familie.
Am Modell erklärt
Ich will das mit einem Modell verdeutlichen, dem Riemann-Thomann-Modell. Dieses gruppendynamische Modell arbeitet mit Gruppenfeldern. Das sind Positionen, die das eine Gruppenmitglied zum anderen aufgrund bestimmter Verhaltenstendenzen einnimmt. Meine Verhaltenstendenz ist abwechslungsorientiert, damit stehe ich Kollege Thorsten, der dauerorientiert handelt, direkt gegenüber. Weshalb es im Zweifel er ist, der regelmäßige Termine macht. Während ich aus einer Laune handele.
So entstehen vier Grundtypen der Gruppe:
Berater kennen es als „Gruppenfeld“
.Der Grundtyp der Menschschaft: Hier sind die Gruppenmitglieder orientiert an Nähe und Dauer. Nähe heißt, man ist sich nah und persönlich zugewandt. Dauer bedeutet, man liebt Regeln und Ordnung. In diesem Klima wächst alles gut, was sich wiederholt und überschaubar ist.
Der Grundtyp der Truppe: Die Mehrzahl zieht es zu Distanz und Dauer? Dann habt ihr es mit einem „Truppe“ zu tun. Hier ist oder wird alles geregelt. Allerdings spricht man wenig oder gar nicht über Privates. Der Stil ist sachlich und förmlich.
Der Grundtyp des Stammtischs: Die Gruppenmitglieder ballen sich bei Nähe und Wechsel? Eberhard Stahl nennt diesen Typ “Team”. Wir finden, dass alle Grundtypen Teams sein können, sofern sie gemeinsame Ziele verfolgen. Beim Stammtisch ist man nah, aber zugleich offen zueinander. Die „Metaebene“ zieht ein, wenn alle über Politik und Sport reden – und natürlich genau wissen, wie es besser geht.
Der Grundtyp des Haufens: Die Mehrzahl gruppiert sich rund um Distanz und Wechsel? Dann habt ihr es mit einem „Haufen“ zu tun. Hier steht die Freiheit des Individuums im Vordergrund. Regeln bringt höchstwahrscheinlich der ein, der im Verhältnis zu den anderen nicht so extreme Ausprägungen hat… Einen gibt es immer. Schon weil es auch immer um Abgrenzung geht.
Eins muss man bei diesem Modell unbedingt bedenken. Es ist ein gruppendynamisches Modell, kein Persönlichkeitstest. Es beschreibt Tendenzen, die sich nur im jeweiligen Kontext zeigen. Es hat mit der eigenen Persönlichkeit wenig zu tun.
Nur extreme Persönlichkeitseigenschaften werden sich dauerhaft und in unterschiedlichen Gruppenfeldern niederschlagen. So wird eine sehr offene und neugierige Person überall eher eine Wechselorientierung mitbringen. Ebenso wie ein sehr gewissenhafter Mensch in unterschiedlichen Gruppen nach Struktur und Ordnung strebt.
Das heißt, auch die Ausprägungen der anderen bestimmen die eigenen. Bin ich mit einem extremen Wechseltyp zusammen, merke ich, dass ich plötzlich nach Struktur suche. Das ist das Charmante an diesem Modell. Man kann damit vieles erklären ohne es festzuschreiben.
Weg mit dem Heimathafen?
Zurück zum Thema. Bindung erodiert und damit auch der Heimathafen vieler Menschen. Sie haben sich, so steht zu vermuten, Alternativen gesucht. Während der Coronapandemie haben viele gemerkt, dass sie ihre Nähe-Bedürfnisse auch anders stillen können. Das gilt auch für die Distanz-Orientierten. Diese haben auch ein Bedürfnis nach Nähe, suchen es aber aus dem Abstand heraus. Es ist moderater, dosierter, auf den kleineren Kreis bezogen. Allerdings gilt auch: Man gewöhnt sich an Abstand. Irgendwann merkt man nicht mal mehr, dass man etwas vermisst. Das ist mir auf dem Weihnachtsmarkt aufgefallen…
Klebstoff weg
Wir haben während der Pandemie gelernt, dass das Wichtigste im Leben nicht die Firma ist. Je weiter die anderen entfernt sind, desto eher gilt das. Damit ist der wichtigste Klebstoff für große Firmen und Verwaltungen verloren gegangen, die typischerweise Nähe-Dauer-Typen anziehen (oder ausbilden).
Natürlich greift ein einzelner Erklärungsansatz hier viel zu kurz. Es spielen auch veränderte Wertvorstellungen eine Rolle. Man sieht beispielsweise, dass die Leute auch bei weniger Geld nicht auf Reisen verzichten. Die nächste Generation wird weniger für die Erben sparen, weshalb sie auch mehr Zeit zum Geldausgeben haben.
Die jetzigen Erben auf der anderen Seite können sich leichter aus dem Arbeitsleben zurückziehen. Immer mehr werden das tun, die Zahl derer steigt, die wenig bis gar nicht arbeiten. Aber auch keine staatliche Unterstützung brauchen.
Die Firmen verlieren damit Leute, a.) die arbeiten müssen, weil sie Geld brauchen und b.) für ihre Kinder arbeiten, damit die es mal besser haben. Die Gegenwartsorientierung durch die Achtsamkeitswelle könnte auch eine Rolle spielen. Wir lernen mindful auf das Jetzt zu blicken – darüber vergisst man leichter, was man noch alles tun könnte.
Psychische Erkrankungen nehmen dramatisch zu
Gleichwohl haben wir immer mehr Probleme mit psychischen Erkrankungen. Und Einsamkeit spielt hier eine zentrale Rolle. Die WHO verzeichnet im Juni 2022 eine erschreckend starke Zunahme psychischer Erkrankungen. Wir haben gelernt „unnötige Kontakte zu reduzieren“. Um rund die Hälfte brach die Zahl der durchschnittlichen Kontakte während Corona ein. Wie es jetzt aussieht, ob das aufgeholt werden konnte, konnte ich nicht herausfinden.
Strong und Werk ties
Das bringt mich dazu, noch mal auf die Kraft der „strong ties“ und „weak ties“ hinzuweisen, der starken und schwachen Verbindungen, dazu auch ein Video. Vor allem die weak ties sind essenziell für Mobilität am Arbeitsmarkt, aber auch Kreativität. Die „strong ties“ sind wichtig für sichere Bindungen und damit für psychische Gesundheit.
Vielleicht sollte man doch nicht alles auflösen, was verbindet. Denn so viel Sozialarbeiter, um all die dadurch aufkommenden Probleme aufzufangen, kann man gar nicht ausbilden.
Und vielleicht wäre die Gemütlichkeit im familiären Handwerksbetrieb ja ohnehin psychisch viel gesünder. Und eben gar nicht so gefährlich wie manche es einschätzen.
Weiterlesen & -hören
Artikel als Podcast:
Ab 11 Uhr könnt ihr hier mein Video über die Kraft loser Verbindungen sehen, die auch für High Performance so wichtig ist.
Das Video von Lars Vollmer findet ihr bei Intrinsify.me in der Reihe “Auf ein Glas mit Lars”
Inspiriert hat mich diese Woche
Das Buch “Das Zeitalter der Resilienz. Leben neu denken auf einer wilden Erde” von Jeremy Rifkin. Mir war schon klar, dass wir aus dem Zeitalter der Effizienz gehen und dabei zugrunde gehen könnten an alten Überzeugungen… aber er unterstreicht das historisch so kompetent einordnend wie ich das so noch nicht gelesen habe.
Die Zeichnung von Roberto Ferrari, die er als Resonanz auf meine Keynote “Connecting dots, connecting people” auf dem Forward Summit am 1.12.22 bestellt hat. Super für Checkins und andere Workshop-Zwecke. Feel free to use, freue mich aber über einen Hinweis auf mich. Die Theorie der Realtional Energy ist nicht von mir, aber die Idee der Batterie ;-)
Offene Termine
Da Psychologie der Veränderung im Februar mal wieder ausgebucht ist, habe ich einen Ersatztermin für April eingestellt
Fortgeschrittene: Meldet euch jetzt schon für meine Summer School Organisationsentwicklung und die Masterclass Nextlevelcoaching im Herbst an,
Alle Teamworks-Termine.
Fortgeschrittene: Meldet euch jetzt schon für meine Summer School Organisationsentwicklung und die Masterclass Nextlevelcoaching im Herbst an.
Nächste TeamworksPLUS-Gruppe startet am 30.3.23. Alle Geschlechter sind willkommen :-)
Alle Teamworks-Termine.
Liebe Frau Hofert,
vor einiger Zeit stieß ich-weiß nicht mehr wie- auf Sie und Ihre Seite. Seitdem habe ich Ihren Newsletter abonniert und freue mich immer wieder über Ihre Meinung zu den verschiedensten Themen. Ich finde Sie schreiben immer sehr verständlich und interessant. Zum heutigen Thema: Ich bin während der Pandemie fast immer im Büro gewesen - ich arbeite im öffentlichen Dienst. Und ich beobachte natürlich das von Ihnen beschriebene Phänomen schon seit langer Zeit. Ich bin selbstverständlich für das Überdenken herkömmlicher Modelle. Aber ich habe das Gefühl, es wird nicht konsequent weiter gedacht. Wenn tatsächlich jeder irgendwo arbeitet, wird es irgendwann erhebliche Probleme geben. Die Baby-Boomer gehen bald in Rente. Dabei geht -neben oft hohem Engagement- auch sehr viel Wissen verloren. Wie das alles remote kompensiert werden kann, wird alle vor riesige Herausforderungen stellen. Wenn keiner mehr ortsgebundene Jobs machen möchte, bleiben demnächst die noch vorhandenen Fabrikhallen leer, Ladengeschäfte stehen leer, Bürohäuser leer oder abgerissen? Diese Szenarien mal zu modellieren bzw. zu durchdenken halte ich für ein höchst spannendes Projekt
Herzliche Grüße aus Berlin
Kerstin Beau