Sind Sie authentisch? Und woran genau erkennen Sie auf der anderen Seite Authentizität?
Wir bewerten andere Menschen danach, wie authentisch sie uns erscheinen. Wir meinen damit „wie echt“. Passen Innen und Außen zusammen? Ist das Lächeln glaubwürdig - wie bei diesem kleinen Mädchen. Oder eine “Show”, gespielt also.
Angenommen Putin würde sein Innen auch Außen zeigen… Würden Sie das authentisch nennen? Wohl nicht. Aber möglich, dass er das tut. Auch ein böser Blick kann echt sein. Er kann sogar ins soziale Umfeld passen, weil alle böse blicken.
Deshalb kommen wir nicht weiter, wenn wir Authentizität nur so betrachten. Es muss mehr sein.
Authentizität ist mehr als Stimmigkeit im Innen und Außen. Aber was?
Wir finden allzu oft nur das authentisch, was auch in unser Wertesystem passt. Doch dabei gibt es eine Schwierigkeit. Eine, die die Authentizität regelrecht vernichten kann: Dabei richten wir uns am Außen aus.
Aber der Reihe nach.
Was ist überhaupt Authentizität?
Welche Pizza ist authentisch?
Schauen wir uns gängige Verständnisse von Authentizität an:
Die Zeitschrift Brigitte, vergleicht einen authentischen Menschen mit einer Pizza. Eine authentische Pizza sei eine original italienische mit dünnem Teig und ohne Ananas.
Die Karrierebibel formuliert: „Authentische Menschen wirken in der Regel wahrhaftig, ungekünstelt, offen und entspannt.“ Eindeutig eine Werte-Botschaft.
Wer nicht entspannt ist und das zeigt, ist demnach auch nicht authentisch. Damit ist Authentizität an ein bestimmtes Narrativ und eine normative Deutung gebunden. Doch wer entscheidet, welchen Belag man auf seiner persönlichen Pizza zu haben hat? Auch eine türkische Pizza kann authentisch sein. Am besten beurteilen kann das sicher ein türkischer Pizzabäcker. Aber das Bild ist trotzdem schief, denn es zielt darauf, dass es den anderen schmecken muss oder man bestimmte Vorgaben erfüllen sollte.
Viele denken auch, dass Innen und Außen zueinander passen müssen. Und meinen, dass es authentisch sei, sein Innersten nach Außen zu kehren. Schauen Sie sich Robert Habeck an. Glauben Sie, dass er immer zeigt, was in ihm innen abgeht? Ich glaube, er wird so einiges faken. Das ist auch gut so, weil gilt: Fake it until you make it.
So kann es authentisch sein, sein Innenleben verschlossen zu halten. Man kann “echt” lächeln und in einem drin sieht es trotzdem anders aus. Fake it funktioniert - es ist ein wichtiger Lernweg. Denn über Fakes wird man oft auch, wie man als nächstes sein will.
Über Fakes wird man, was man als nächstes sein will.
Stellen Sie sich vor, Robert Habeck würde alles nach außen tragen, was ihn so beschäftigt. Er dosiert - geschickt auswählend und mit hoher verbaler Intelligenz. Das zeigt: Authentizität ist auch das geschickte Spiel mit den anderen, das bewusste Auswählen und Verdecken.
Ich meine deshalb, dass wir über unser Verständnis von Authentizität nachdenken sollten. Ein differenziertes Verständnis schützt uns vor allzu eindimensionalen “Pizzen”. Und vielleicht auch vor zu schnellen Urteilen.
Fünf Thesen, warum unser Verständnis von Authentizität (oft) zu kurz greift.
1. Unsere Auswahl bestimmt Authentizität.
Wir setzen uns in jeder Sekunde neu zusammen. Dabei wählen wir etwas von uns aus, etwas anderes nicht. Wir bemerken Dinge an uns oder nicht. Wir zeigen und wir zeigen nicht. Etwa ob wie ein Unbehagen aussprechen oder schweigen. Wir fühlen (uns) oder auch mal nicht. Ab und zu geht jeder in den Automatenmodus oder schaltet sich von der Außenwelt ab - und agiert trotzdem geschickt mit dem außen.
Niemand ist dauerhaft wahrhaftig er/sie selbst. Dieser Anspruch ist unmenschlich und wäre am Ende… unauthentisch.
2. Wir können nur für uns selbst authentisch sein.
Ich spüre derzeit eine sich verstärkende normative Welle, die in Form von “Narrativen” daher kommt und Vorstellungen von “so sein müssen” vermittelt. Ich sehe darin eine Gefahr, denn ich vermute auf uns kommen sehr schwere Zeiten zu, in denen zu viel “so sein müssen” ein Hindernis sein wird. Es geht für viele und vieles ums existenzielle Überleben. Wenn Sie Authentisch-sein dann zu sehr an etwas Bestimmtes und feste Vorstellungen gebunden haben, wird es schwierig, sich neu zu erfinden.
Wie viel leichter wäre eine fluide Authentizität, die sich jenseits fremdgesetzter Maßstäbe ändern und vor allem entwickeln darf. Maßstab ist dann nicht, wie man Innen ist, sondern ob man im Kontakt mit sich geht. Auf welche Weise auch immer.
3. Wir verändern unsere Authentizität
Unser Selbstverständnis ändert sich mit Lebensphasen und Erfahrungen. Meine jeweilige Auswahl des Ausschnitts bestimmt nicht nur, wie wir uns selbst, sondern auch wie andere ihn sehen. Wähle ich ein Foto, auf dem ich lache? Oder eines auf dem ich ernst blicke? Was dazwischen? Fühle ich mich mit der Vorauswahl wohl oder sagt sie mir “das bin ich nicht”. Sagt mir ein anderer “das bist du nicht” - will ich das dann glauben oder nicht? Könnte es nicht nur darauf hindeuten, dass ich nicht (mehr) in das Raster des anderen passe? Genauso ein “Das bist du”. Ist das nicht Anmaßung?
Authentizität ist auch das, was man an sich selbst als authentisch ansehen möchte.
4. Auch Wut kann authentisch sein.
Die Personen, die uns gerade umgeben sind nicht nur ein Rahmen, sie bestimmen das Bild von uns. Aber jeder sieht einen anderen Ausschnitt, kleiner und größer. Ich weiß nicht, ob Robert Habecks Frau ihren Mann auch wütend oder verzweifelt kennt. Wahrscheinlich, dass unterschiedliche Personen auch unterschiedliche Ausschnitte kennen und damit für sich zu IHREM Bild zusammensetzen. Was authentisch für den einen ist, ist fremd für den anderen.
Gerade hier spielt eine subjektive Norm mit hinein: Lehne ich es ab, wenn jemand sich einmal wütend zeigt? Oder sage ich: Das ist jetzt die Situation, und nicht der Mensch. Es kann auch einen authentischen Wutausbruch geben. Da kommt dann was von Innen nach Außen - und wird in diesem Moment als stimmig und authentisch angesehen.
5. Wir interpretieren Authentizität Computergleich
Algorithmen analysieren nach 0 und 1. Künstliche Intelligenz basiert auf einer zweiwertigen Logik, wonach das eine IST und das andere NICHT IST (und sein kann). Deshalb kann sie zum besseren Experten werden als wir Menschen, aber nicht zum Kreativen.
Menschen können eine Intuition haben, die nichts mit 0 oder 1 zu tun hat, sondern mit 0 UND 1 oder etwas ganz anderem. Menschen können binäre Logik überwinden, denn sie verhindert, dass wir unsere Zukunft nicht nur als Verlängerung der Vergangenheit gestalten.
Menschen können damit etwas gestalten, das von künstlicher Intelligenz und der zugrunde liegenden aristotelische Logik abweicht. Darin liegt unsere wahre Zukunftschance - das ist auch das Grundthema meines Buchs Business Slowdown.
Fazit: Zurück und nicht nach vorne
Für Jaques Rousseau war der Mensch in seinem Naturzustand gut, frei und authentisch. Ein authentischer Mensch entzieht sich dem Anpassungsdruck der sozialen Umgebung und tritt stattdessen in einen inneren Dialog mit sich selbst.
Man ist also wie man ist, nicht um anderen wie eine Pizza zu schmecken, sondern um gut und frei sein zu können. Damit ist Authentizität auch ein Prozess des Werdens.
Beiträge und Videos zum Weiterlesen:
Inspirierend
Digitalisierung ist mehr als nur 0 und 1: Inspirierend fand ich diesen Beitrag von Conny Dethloff aus dem Jahr 2017.
Ein Feigenblatt namens Purpose: Darüber hatte der Harvard Business Manager schon 2017 geschrieben. In seiner Business Punk-Kolumne rüttelt Nico Rose an Grundfesten des Purpose-Glaubens.
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Was unterscheidet Change, Evolution und Revolution? Montag kommt mein neues Lehr- und Lernvideo. Hier geht es zum Kanal-Abo von SvenjaHofertMindshift
Was nutzt uns Virtual Reality? Am 23.6. moderiere ich ein kostenloses Webinar mit Franz Hütter. Zoom-Anmeldung.
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