Nr. 40: Die agile Kommunikationsexplosion
Ich habe mich geirrt. Beseelt vom agilen Gedanken, haben wir uns aufgebläht. Wir haben Rollen definiert, OKR eingeführt und alle mitreden lassen. Und ich sage euch: Es hat am Ende mehr Bürokratie gebracht als einem kleinen Unternehmen guttut.
Mittlerweile habe ich viele Organisationen gesehen, die sich an dem, was sie unter Agilität verstehen, verhoben haben. Das heißt nicht, dass die agile Bewegung nicht erfolgreich war, oder in Teilen erfolgreich. Es heißt, dass unterschätzt wurde, was es bedeutet, wenn man Führung verteilt.
Kunden wissen mehr über Gegenwart als Zukunft
Die Mitarbeiterseite ist das eine. Aber auch die Kunden-Einbindung führt nicht zwangsläufig zu mehr Innovation. Kunden wissen oft mehr über ihre Gegenwart als über unsere Zukunft. Bindet man sie in die Produkt- und Prozessentwicklung ein, ist das aufwendig. Fragt man sie, wollen sie beispielsweise keine Chatbots.
Und dann gibt es da oft einen Innovationsgap: Manche liegen weiter zurück als die Unternehmen, kleben am Fax und Post - oder dürfen bestimmte Lösungen gar nicht nutzen.
Es hat einen Grund, warum sich Technologieführerinnen nicht um Kunden scheren. Und warum MAYA - Most Advanced but yet acceptable - auch innovationsbremsend sein kann. Sowie die Diskussion darüber.
Die Frage ist also: Wie viel Kommunikation ist nach außen und innen angebracht? Und wann braucht es ein “Basta” und “das wird gemacht, auch wenn’s keiner will”. Von wem darf das überhaupt kommen - wenn ja nicht mehr richtig klar ist, wer führt…
Reife ist Reflektivität
“Reife” ist ein von Systemtheoretikern verachteter Begriff. Sie finden es gewöhnlich unmöglich, Menschen danach einzuteilen. Und doch halte ich es für wichtig, auf die kommunikative Reife einer Gruppe zu schauen. Wie können sie mit Widersprüchen umgehen? Wollen sie aus der anderen Meinung lernen? Oder gibt es nur richtig/falsch oder besser/als?
Wer führt muss bisherige Entscheidungen öfter über Bord werfen, vielleicht sogar ständig. Ideologische Überzeugungen sind da hinderlich. Es ist sinnvoll, private Überzeugung vom unternehmerischen Nutzen zu trennen, andernfalls wird’s keine pragmatischen Wege geben.
Ideologie mag gut funktionieren, wenn der Markt ruhig ist, nicht aber bei Wellen und im Sturm. Wenn viele denken, alle würden führen, sickern ideologische Prägungen oft mit ein. Es folgen Glaubenskämpfe, zum Beispiel darüber, ob es Führungskräfte überhaupt braucht. Oder Führungskräfte, die Glaubenskämpfe über das Nicht-Entscheiden führen.
Natürlich ist alles immer nur im Kontext zu verstehen. Aber es gibt auch individuelle Faktoren. Krankenhausteams haben einen ähnlichen Kontext - und dennoch ist die kommunikative Reife der dortigen Teams unterschiedlich. Dennoch können einige besser kommunizieren als andere. Gewöhnlich, weil sie an sich gearbeitet haben.
Veränderung führt zu Kommunikationsexplosion
Eines stimmt immer, wenn es um agiles, selbstorganisiertes Arbeiten geht. Die Veränderung hin zu mehr Teamverantwortung führt zu einer mindestens vorübergehenden Kommunikationsexplosion. Und die muss man sich zeitlich, räumlich, finanziell und personell leisten können und wollen. Der Aufwand dafür wird so gut wie immer hoffnungslos unterschätzt. Wenn er denn überhaupt eingeplant wird.
Den Begriff Kommunikationsexplosion verdanke ich Daniel Dubbel, dessen Podcast über die Transformation der DB Systel zu einer Netzwerkorganisation ich gern empfehle und unten verlinke.
Folgende Situation zeigt die Unterschätzung von Kommunikation: Eine klassisch hierarchisch strukturierte Abteilung mit zwei Teams bekommt eine neue Führungskraft. Diese ist ausgewiesener Fan von Selbstorganisation. Vorher haben die Mitarbeiter, Spezialisten aus IT und Controlling, sich die Arbeit zuteilen lassen. Sogar ausgehende Briefe an wichtige Empfänger wurden kontrolliert. Jetzt heißt es: Macht mal, ihr seid doch Spezialisten. Die totale Verunsicherung ist die Folge. Jetzt wäre sehr viel Kommunikation nötig, jedoch hat die Führungskraft nicht die Empathie zu verstehen, was da los ist.
Führung ist ein wichtiges Strukturelement.
Alternative Führungs-Strukturen aufzubauen, kostet Zeit, Geld und Beratertage. Rollenkonzepte rütteln an der Identität. Sie müssen reflektiert werden. Erst recht gilt das für verteilte Führung. Und dann die Meetings! Damit diese effizient sind, braucht es Übung. Arbeitsmethoden: Damit diese wirklich verstanden sind, sind viele Schleifen und viel Feedback nötig
Wer diese Zeit nicht hat, weil das Tagesgeschäft Vorrang hat, sollte die Finger von aufwendigen Umstrukturierungen lassen. Die Alarmglocken sollten bei Beratern schrillen, wenn neue Strukturen einfach nur obendrauf kommen - aber nichts dafür wegfällt. Aber auch wenn es konsequent gemacht wird, hat es Folgen…
Jedes Führungsvakuum erzeugt Chaos, das man sich leisten können muss.
Besonders Eingriffe in die Aufbauorganisation sind heikle Operationen am offenen Herzen. “Spotify”ist kein SAP-Rollout. Stellt euch ein Kloster mit tragenden Säulen vor. Wenn die wegbrechen, bricht auch der Rest zusammen. Jedes Führungsvakuum erzeugt Chaos, das man sich leisten können muss.
Bei all dem bleibt die Frage, worum es eigentlich geht und ob das, worum es geht, nicht schneller anders erreicht werden kann. Mit weniger Kommunikation zum Beispiel und mehr Führungs-Entscheidungen.
Bewusstsein für innere Destabilisierung
Jede Veränderung, die formale Führung kappt, erzeugt eine neue Notwendigkeit: Das Andere, Alternative neu zu lernen. Dabei müssen vier Stufen das Lernens durchlaufen werden. Dieser Prozess hat eine psychologische Komponente: Wer lernt, dass er neu lernen muss, muss sich von einem Stück bisheriger Identität verabschieden. Das destabilisiert, mindestens vorübergehend.
Resiliente Menschen stecken das weg, weniger resiliente geraten in bisweilen heftige Krisen. Systemtheoretiker würden sagen, das sei nicht Sache der Organisation. Aber was ist mit der Fürsorgepflicht, die gesetzlich verankert ist? Kann man Menschen wirklich damit allein lassen? Ich finde nein, aber auch fürs Auffangen braucht es wieder Ressourcen.
Ich versuche das einmal am Beispiel „Agile Rollen“ aufzuzeigen.
Unbewusste Inkompetenz. Egon Müller ist jetzt Agile Master und muss diese neue Rolle ausfüllen. Wie, das weiß er nicht, aber auch nicht, dass er das nicht weiß. Jetzt braucht er gutes Feedback. Damit kann er erst mal nicht gut umgehen.
Bewusste Inkompetenz: Prost, Mahlzeit, nun ist unser Egon im Bewusstsein angekommen, dass er keine Ahnung hat wie’s geht. Er kann z.B. weder Feedback geben noch nehmen. Das bedeutet was für seine Identität - die musst sich neu formen. Er will das wirklich, aber braucht viel Zeit dafür.
Unbewusste Kompetenz: Jetzt gelingt Egon immer mehr. Aber er hat immer noch Selbstzweifel.
Bewusste Kompetenz: Nach drei Jahren ist Egon hier angekommen, blickt auf eine intensive Zeit zurück. Er hat viel reflektiert und weiß, dass die Reise nicht zu Ende ist. Geklappt hat das alles vor allem, weil er eine gute Begleitung hatte.
Vergessen wir nicht: Jede Lösung erzeugt neue Probleme. Welche das sind, kann man bis zu einem gewissen Grad vordenken. Aber Gruppen sind emergent, was genau in ihnen entsteht - keiner weiß es. Eine Überforderung durch ungewohnte, aufwendige Kommunikation kann die einen lahmlegen - und bei anderen Energien freisetzen.
Moralische Grundsatzdiskussionen
Ein fluides Netzwerk ist schnell mal auf dem Bierdeckel gemalt. Aber was so ein Umbau für das Unternehmen bedeutet, malt sich keiner aus. Der damit verbundene Konzeptwechsel kann eine kommunikative Überforderung bedeuten.
Und so hat manch eine agile Transformation einen Nebeneffekt. Sie setzt Grundsatzdiskussionen über Hierarchie oder Gleichheit frei, die eine heikle, weil moralische Dimension bekommen. Am Ende ist es eine ähnliche Diskussion wie in der Politik, und ähnlich emotional. Moral jedoch ist höchst explosiv, denn nichts spaltet mehr. Dann doch besser wieder: An die Arbeit, Leute.
Weiter: Lesen, Sehen & Hören
Daniel Dubbel und seine praxisnahe Reflexion über die Kommunikationsexplosion bei DB Systel. Let´s lead.
Inspiriert hat mich diese Woche
Der Podcast “Rätsel des Unbewussten”, der psychoanalytische Analysen bringt. Findet ihr in allen Podcast-Stores
Ein Podcast von Christina Gruppendorfer, in dem sie mit Barbara Kühler spricht. Die Abgrenzung systemisch und systemtheoretisch wird hier sehr gut herausgearbeitet. Auch das unterschiedliche Verständnis von Individuum und Identität in Psychologie und Systemtheorie. Lehrreich, hier
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Wir freuen uns sehr auf Teilnehmerinnen für TeamworksPLUS Gruppe 15. Wir formieren uns jetzt. Seid ihr dabei? Info
Da Psychologie der Veränderung im Februar mal wieder ausgebucht ist, habe ich einen Ersatztermin für April eingestellt
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