Dieser Tage habe ich einmal mehr erlebt, wie eine große familiäre Erzählung einfach so in sich zusammenbricht. Da zeigt sich plötzlich und völlig unerwartet, dass nichts ist, wie es scheint. Eigene Lebenserzählungen erweisen sich über Nacht als nicht mehr haltbar. Aber niemand will es wahrhaben.
Unsere persönlichen Überzeugungen, Werte und Bedürfnisse sind zufällig entstanden, um sich dann mit Geschichten zu füllen. Geschichten erhalten und Geschichten verändern die Welt. Wir Menschen sind eben „Erzählende Affen“, wie es die Autoren Samira El-Quassil und Friedemann Karig in ihrem gleichnamigen Bestseller (be-)schreiben. Aber wie funktioniert das? Und was können wir daraus für Veränderung lernen?
Unser Script steckt voller Geschichten. Einige sind Fake News.
Wir folgen Drehbüchern, die früh entstehen. „Das Kind ist kreativ!“ ruft die Mutter beim Blick auf die Vierjährige. Film ab: Ob das nun reine Zuschreibung ist, Wunschdenken, mütterliche Projektion oder ein „Fakt“: Was wir als Botschaft annehmen, formt, was wir dann in uns sehen. So beginnt die eigene Ich-Geschichte.
Und von da an geht es weiter: Szene um Szene wird geschrieben. Das Drehbuch bekommt eine emotionale Färbung: Happy End oder Trauerspiel, Drama oder Komödie. In der Transaktionsanalyse ist das Script eine Art Blueprint für das Leben. Es beinhaltet Grundüberzeugungen wie „ich bin nicht gut genug“, die auch andere psychologische Schulen kennen. Oder auch: „Ich kann alles schaffen.“ Die Familie sagt: „Wir sind wer“ oder “bei uns macht man das so (nicht)”.
Das Newsletter-Bild habe ich von Henri Toulouse-Lautrec inspirieren lassen. Aus einer inzestiösen Adelsfamilie stammend, wurde er nur 1,52 Meter groß und litt unter einem Unfall. Sein „Script“ füllte sich mit dem Wunsch nach Besonderssein, dolce vita, Alkoholismus, Lebensfreude und dem Mut, damalige Seh- und damit auch Denkgewohnheiten zu brechen.
Geschichten sind der Schlüssel zum Verständnis von Veränderungen
Denn nur wenn vorhandene Narrative erodieren, wandelt sich unsere persönliche und kollektive Welt. Und wie es mit Erosionen so ist: Neue Landschaften entstehen in einem schleichenden Prozess - immer geht es dabei auch um Widerstand und Brüche. Neue Täler und Höhen entstehen durch starken Druck ebenso wie steter Tropfen den Stein höhlt.
Wir wollen unsere Geschichten so bewahren wie sie sind. Die Nachricht von Informationen, die eigene Annahmen verändert, formt sich nicht etwa zum neuen Narrativ, sondern wird abgespalten. Sie wird in die alten Erklärungsmuster, also ins Script gefügt, auch das Script der Unternehmenskultur, die sagt „so sind wir eben“.
Denn: Wir Menschen passen neue Informationen in alte Rahmen ein, anstatt ihr Verständnis zu ändern oder zu erweitern.
Martin hält nichts von Kontrolle, einmal sagen muss reichen. Obwohl sich immer wieder zeigt, dass manche Mitarbeiter diese brauchen, verändert er seinen Modus nicht.
Sibille arbeitet seit Jahrzehnten in Agenturen. Obwohl sie immer wieder merkt, dass ihr Softwarekenntnisse fehlen, nimmt sie Weiterbildungsangebote nicht wahr.
Das Gehirn spielt verrückt, wenn neue Informationen verwirren
Der Neurowissenschaftler Jonas Kaplan fand heraus, dass neue Informationen uns emotional regelrecht aus der Bahn werfen. Er untersuchte das, in dem er Probanden in den USA mit Informationen konfrontierte, die ihren eigenen Überzeugungen widersprachen, etwa zu Waffengesetzen oder Militärausgaben.
Bei den Probanden wurden dabei Bereiche des Gehirns aktiviert, die mit Identität, Emotion und Konflikt zu tun haben. Besonders aktiv waren das dorsomediale präfrontale Kortex und der orbitofrontale Kortex - Regionen, die mit emotionaler Regulation und kognitiver Dissonanz in Verbindung stehen.
Auch das „Default Mode Network“ wurde aktiv, eine Hirnregion, die für Tagträume zuständig ist. Hier findet sich aber auch der Bereich, der aktiviert wird, wenn wir über uns selbst nachdenken und uns beispielsweise fragen, wer wir sind. Eigentlich wird diese Frage in jeder Sekunde neu beantwortet, was auch theoretisch jede Sekunde die Möglichkeit einer Änderung bringt – aber durch dieses Streben nach Stabilität bringen wir alles gleich wieder in unsere erzählerische Ordnung.
Neue Scripts durch KI
In letzter Zeit kommen viele frühere Coachingkunden zu mir. Sie sind mit mir älter geworden. Jetzt prüfen viele Unternehmen, wie sie KI einsetzen können. Nicht nur die ersten Stühle wackeln, sondern auch die Narrative von sich selbst. Etwa die Überzeugung, dass man mit fünf Sprachen fließend überall gefragt sei. Oder sich immer auf sein Bauchgefühl verlassen könne.
Wenn sich sogar ein konservativer Grüner wie Winfried Kretschmann fragt, ob Rechtschreibung in Zeiten von ChatGPT noch wichtig ist, rüttelt diese Nachricht an der Überzeugungstür.
Die wird von Innen festzugehalten. Fleucht ein Gedanke unten durch die Tür, dann wird dieser schnell aufgekehrt: die Rente ist nah, es geht noch ein paar Jahre. Noch so ein Narrativ, die Rente: Der Film von der Zeit, in dem wir die Früchte der Entbehrung ernten. Wackelt dieser Film, bringt das in Wallung. Persönliche Narrative sind nämlich nie nur persönlich: Die eigenen Netzwerke sind ihr Widerhall, der Spiegel.
Narrative sind unmittelbar mit mentalen Modellen verbunden.
Während das mentale Modell eine Art Gebrauchsanweisung der angenommenen Wirklichkeit bietet, liefert das Narrativ die Rahmenhandlung.
Mentale Modelle sind individuelle und kollektive Vorstellungen davon, wie die Welt funktioniert. Diese mentalen Modelle sind eng mit Erzählungen verzahnt, bauen sozusagen darauf auf. „Erzähle immer die Wahrheit“, baut auf dem Narrativ auf, dass es diese geben kann.
„Das Bedürfnis nach einer Stütze, Orientierung oder Sinnstiftung im Leben ist größer als das Bedürfnis nach überprüfbaren Wahrheiten.“ (Philipp Sterzer in „Die Illusion der Vernunft“)
Das mentale Modelle „Wandel durch Handel“ etwa ist Teil des Narrativs, dass Demokraten besser sind als Autokraten und mit ihren freien Märkten auch die Freiheit bringen.
Das Narrativ und damit verbundene Modelle prägte eine ganze Generation. „Frieden schaffen ohne Waffen“: Auch dieses mentale Modell ist Teil einer Erzählung – und mal eben so in sich zusammengebrochen. In der dazugehörigen Erzählung geht es um die Überlegenheit, etwa bestimmter Werte.
Viele Erzählungen passen nicht mehr. Sie führen absehbar in eine Tragödie. Sie wirken für Außenstehende wie aus der Zeit gefallen. Etwa der Film „Staatsdienst“..
Die Juristin Dorit Bosch ist Gründerin des „Mindshiftfestivals“. Sie hat es sich in den Kopf gesetzt, den Film „Staat“ aufzumischen und zu verändern. „Wir müssen etwas tun, es ist 5 nach 12“, sagt sie. Und schafft damit gleich ein neues Narrativ.
Dafür betreibt sie Bürokratieabbau in eigener Sache und einen Podcast namens “Let´s Staat”. Und sie bringt Menschen zusammen, die ähnlich denken. Menschen, die eine Rolle übernehmen, ihre Welt verändern wollen. Wir haben uns diese Woche kennengelernt und spontan einen Podcast aufgenommen (siehe Info-Box).
Neue Begegnungen verändern.
Sie bringen Gedankengebäude zum Einstürzen, weil in ihnen ein Angebot liegt: Wenn du auch glaubst, dass das wichtig ist, gehörst du dazu. Sie mehren Chancen, weil zusammenkommt, was sich sonst nicht begegnet. Die Bindung im Netzwerk schmälert die Angst, ein altes Narrativ zu verlieren, verkehrt sie gar ins Gegenteil: Freude. Denke an des DFN.
Die Erzählung sagt: „Wir wollen dasselbe“.
Das ist der wahre Mindshift: Er beginnt mit einer neuen Ingruppe. Leute, die sich bewusst abgrenzen von den anderen. Auch um sich mit ihnen an einen Tisch zu setzen. Um sich Geschichten über die Zukunft zu erzählen - was Affen definitiv nicht können.
Zum Schluss noch ein paar Coachingfragen:
Was ist das Narrativ (deines Ichs, deiner Familie, Kultur)?
Welche mentalen Modelle beinhaltet es?
Was spielt sich ab?
Was ist der emotionale Zwischenton?
Löst das Narrativ Probleme oder bringt es neue?
Löst ein zum Narrativ gehörendes mentales Modell Probleme oder bringt es neue? Ist es 5 vor oder 5 nach 12?
Welche alternativen Narrative gibt es?
Wodurch und durch wen ist das Narrativ entstanden?
Sind diese Entstehungsbedingungen immer noch da?
Was würde das Narrativ erschüttern können?
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Philipp Sterzer: Die Illusion der Vernunft. 2022.
Samira El Ouassil und Friedemann Karig: Erzählende Affen: Mythen, Lügen, Utopien - wie Geschichten unser Leben bestimmen | Narrative vom Patriarchat oder der Klimakrise
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Mindshift-Festival am 15.5.2024: Sei du die Veränderung im Staat. Ich werde wahrscheinlich auch da sein, hier geht es zur Anmeldung.
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