No. 35 Die Laptopklasse geht, die Frugalisten kommen
Das Rauschen des Meeres entspannt. Vor diesem Hintergrund können E-Mails warten, haben Telefonate Zeit. Die Arbeit ist weit weg.
„Wie froh ich bin, nicht mehr in Deutschland zu leben“
„Wie froh ich bin, nicht mehr in Deutschland zu leben“, heißt ein Beitrag, der in mir nachklingt (Link im Kasten). Die Welt-Korrespondentin Christina zur Nedden hat Berlin den Rücken gekehrt. Sie lebt nun in Singapur mit viel Sonne und Meer. Ihr launiger Beitrag bekam über 1.800 Kommentare. Und prompt folgte die Replik. Der widersprechende Autor stellte die Vorzüge des Lebens in Deutschland der Singapur-Schönzeichnung gegenüber.
Die Replik überzeugte mich allerdings nicht. Tolles Bildungssystem? Eines der besten Gesundheitssysteme? Bitte?!
Ich sehe eher: Stetig sich verschlechternde medizinische Versorgung, viel Bürokratie, wenig Digitalisierung, falsche oder fehlende Reglementierung - und nicht mal in Baden-Württemberg ein Land der Ideen. Und selbst wenn es uns Bundesbürgerinnen besser geht als vielen anderen: Inzwischen sollte klar sein, dass die Zukunft nicht notwendig eine Fortsetzung der Vergangenheit ist. Erst recht nicht in einer Zeit unüberschaubar zahlreicher Wenden und unklarer Wechselwirkungen.
Geht es mit uns bergab?
Es geht in der Singapur-Kolumne weniger um die Vorzüge des Meeresrauschens. Auch weniger um das der Laptopklasse vorbehaltene Privileg entspannten Arbeitens von Überall.
Nein, es geht darum, woanders die Zukunft zu sehen. Singapur scheint der Autorin wie ein Gegenentwurf zu Berlin. Sauberer, ordentlicher, moderner – dort kannst du als Frau ohne Angst abends auf die Straße gehen. Und ja, es ist sauteuer, Sex unter Männern ist erst seit kurzem erlaubt und die Todesstrafe gibt es noch. Nichts hat nur eine Seite.
Die Frage ist aber eher: Wer schafft den Turnaround? Und wie, wann und wodurch? Sichtbar verlottern derweil Teile Deutschlands, explodiert Berlin mit Knallkörpern durch Knallköpfe, verroht das Frankfurter Bahnhofsviertel. Selbst im sonst so gemütlichen Stuttgart hat es mich gegruselt, als ich abends um 23 Uhr in einem Motel One nahe einer Bahnstation eincheckte…
Ich verstehe, dass manche weggehen. Um anderswo zu leben, zu arbeiten und Unternehmen zu gründen.
Auswanderung ist ein Kontinuum. Svenja Hofert
Noch ist es zwar kein Brain Drain, doch seit Jahren steigt die Kurve der Auswanderer. Allein die Corona-Pandemie sorgte für eine kleine Delle. Die Delle wird, schaut man sich Zahlen des Statistischen Bundesamtes an, gerade wieder aufgeholt.
Ich nehme abseits dieser Zahlen aber eine vermehrte Landesflucht wahr, den die Statistik nicht wiedergegeben kann. Denn Auswanderung heißt eben nicht gleich alle Zelte abbrechen - und die Wohnung in Deutschland ganz aufgeben. Auswanderung ist mehr Homeoffice woanders, ist ein Kontinuum. Ich brauche nur an die Costa del Sol zu schauen. Da leben viele nicht ganz, aber auch nicht gar nicht.
Teilzeitauswanderer begegnen mir ständig: Sie sind mal ein paar Monate weg, mal ein Jahr, nehmen unbezahlten Urlaub und bereiten sich vor für den größeren Schritt. Auch die Zahl der Privatiers, derjenigen, die aufgrund von Ersparnissen oder Erbe nicht mehr arbeiten muss, vergrößert sich.
Derweil raubt der grassierende Fachkräftemangel den Restaurants, Produktionsunternehmen und dem Gesundheitswesen die Wirtschafts- und Lebenskraft.
Und befeuert die Landesflucht eine weitere Spaltung der Arbeitswelt - und kreiert zudem Widersprüche. So sehe ich mehr und mehr individualisierte Arbeitsverträge. Teams, die ihre Kollegen noch nie gesehen haben. Eigenwillige New-Work-Konstruktionen. Denn die, die ihre Wünsche durchdrücken können, tun das aus einem einzigen Grund: weil sie es als begehrte Fachkräfte tun können.
Die Wechselwirkungen sind im wahren Sinn unberechenbar. Was passiert, wenn die Wirtschaftsleistung mangels Fachkräften sinkt? Wenn Produktions-Jobs deshalb im Ausland verschwinden, was sich schon jetzt abzeichnet? Wer zahlt dann in die Rente, finanziert den teuren Staat?
Ich beneide die Wirtschaftslenkerinnen wirklich nicht. Sie müssen New Work versprechen, aber gleichzeitig immer mehr Arbeit immer effizienter machen - was weiter entfremdet. Das mag in jungen Unternehmen noch gelingen, aber was ist mit den alten Industrien?
Und dann ist da dieser leergefegte Arbeitsmarkt, auf dem man nicht mal mehr nach den Besten suchen kann, sondern nehmen muss, was kommt. Svenja Hofert
Da wird aus New Work dann im Kopf schneller “Neu Würg” als man darüber nachdenken kann. Und die Kräfte verschieben sich: Die unten verdienen mehr, die oben weniger.
Das “Normalarbeitsverhältnis” wird nach wie vor hoch gehalten
In der deutschen Politik wird derweil das “Normalarbeitsverhältnis” nach wie vor hoch gehalten und mit seiner Weiterexistenz gerechnet. Aber ist das wahrscheinlich bei all diesen Entwicklungen?
Werden die Leute wirklich auch noch in 10 Jahren acht Stunden am Tag arbeiten, 40 Jahre lang, bis zum Rentenalter? Mir fällt es extrem schwer, mir das vorzustellen. Svenja Hofert
Schon jetzt müssen aufgrund des Fachkräftemangels immer weniger vor-Ort-Arbeitnehmerinnen immer mehr Arbeit erledigen. Das bedeutet mehr Stress für die Verbleibenden. Deren Wissen oft veraltet ist - was den Druck weiter erhöht. Oder die Lust beflügelt zu gehen.
Wir können alles Mögliche wählen
Mann und Frau kann sich entscheiden. Es ist ein Wettbewerb um solvente Neubürger entstanden. Nicht nur Deutschland wirbt ebenso verzweifelt wie erfolglos um Einwanderer, auch andere Länder tun das - sie werben um Deutsche.
In der EU kann man sich sowieso überall niederlassen. Aber auch wer richtig bleiben will, wird gelockt: Portugal kannst du mit einem Investment ab 500.000 EUR in Immobilien Staatsbürgerin werden. Montenegro und Zypern angeln sich mit Vergnügen deutsche Steuerflüchtlinge.
Wahlfreiheit ist auch finanzielle Freiheit
Finanzielle Freiheit zu erlangen ist für immer mehr Menschen ein Ziel, das nicht mehr auf die Zeit nach der Rente geschoben wird.
Frugalisten etwa schieben den Zeitpunkt weit nach vorne, zu dem sie aus der Arbeitswelt aussteigen wollen. Sie suchen sich Jobs, in denen sie gut verdienen, um maximal viel zu sparen. Sie geben nichts aus, investieren stattdessen an der Börse, in Bitcoin. Idealerweise heißt es dann mit 40 Jahren: Sachen zu packen und irgendwo auf der Welt vom Ersparten leben. Bis dann irgendwann die Rente kommt, die man sich überall hin überweisen kann.
Rente mit 64? 8 Stunden am Tage, 5 Tage die Woche? All das scheinen mir Auslaufmodelle zu sein. Aus der Zeit gefallen wie die Arbeitszeiterfassung oder Präsenzpflicht.
Weiter: Lesen, Sehen & Hören
“Wie froh ich bin, nicht mehr in Deutschland zu sein”, Kolumne von Christina zur Nedden (leider Bezahlschranke)
Mein Stärkentest von ChatGPT
Inspiriert hat mich diese Woche
Weiterhin ChatGPT
Sonne, Wind und Meeresrauschen
Offene Termine
Da Psychologie der Veränderung im Februar mal wieder ausgebucht ist, habe ich einen Ersatztermin für April eingestellt
Fortgeschrittene: Meldet euch jetzt schon für meine Summer School Organisationsentwicklung und die Masterclass Nextlevelcoaching im Herbst an,
Alle Teamworks-Termine.
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Nächste TeamworksPLUS-Gruppe startet am 30.3.23. Alle Geschlechter sind willkommen :-)
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Foto von Johannes Plenio: https://www.pexels.com/de-de/foto/flug-dammerung-himmel-sonnenuntergang-1126384/