No. 50 Über den Mut, in späteren Lebensphasen etwas Großes zu wagen
Arno hat noch zwei Jahre bis zur Rente. Er nutzt die Zeit, um die Weichen für die Zukunft zu stellen. So, dass es auch für die anderen in seiner Organisation kein einfaches Zurück mehr geben wird.
“Ich habe nichts mehr zu verlieren” bedeutet: Ich kann wirklich mutig sein.
„Ich habe nichts mehr zu verlieren“, sagt er mir. „Keine neue Geschäftsführung kann das jetzt wieder zurückdrehen.“ Arno ist Personalleiter.
Und weiß, dass sich sein Bereich und die Organisation neu aufstellen muss. Es braucht andere Strukturen, nicht nur neue Formate. Personalentwicklung kann nicht mehr fern von Geschäft und getrennt von Organisationsentwicklung betrieben werden wie früher. Es braucht mehr Raum für Reibung.
Es braucht mehr Raum für Reibung.
Und die jungen Führungskräfte müssen systemische Zusammenhänge verstehen. Gerade ist Arno sehr laut – aber er hat viele Follower und Fans in seinem sonst sehr behäbigen Betrieb.
Arno heißt anders, und vielleicht ist er auch eine Anette. Wenn ich Geschichten erzähle, dann so, dass die Menschen nicht wiedererkennbar sind. Es gibt typische Geschichten, die sich vielfach wiederholen. Und andere, die sind ungewöhnlich - wie Arnos Geschichte.
“Das sitz ich auch noch aus”
Viel öfter höre ich eine ganz andere Erzählung: „Ich habe nur noch fünf, drei, zwei Jahre bis zur Rente, das sitz ich aus.“ Oft habe ich mit Menschen zu tun, die solche Menschen “drehen” sollen.
Das ist die Quadratur des Kreises - sie kann nicht gelingen. Denn oft setzt man auf Lösungen, die nur Reaktanz (siehe Newsletter No. 47) auslöst: Die “Alten” bekommen eine viel jüngere Führungskraft. Eine, die fast alles verlieren kann und entsprechend unklar, vorsichtig oder auch naiv agiert.
Die Kraft der späten Lebensphasen
Dabei verkennen Menschen, die in einer späteren Lebensphase sind ihre eigene Kraft, auch die Kraft der Weisheit. Revolutionen sind etwas für den Sturm und Drang. Sie basieren auf dem Konzept der Widerspruchsfreiheit, sind nur denkbar im Richtig-Modus. Die Architektinnen weiser Lösungen dagegen müssen mehr als nur Wahrheiten relativieren: Sie brauchen den Blick auf das große Ganze.
Den gewinnt man leichter, wenn der Blick frei ist, wenn man nicht mehr eingeengt ist im Normenkorsett. Kinder sind raus, das Haus ist abbezahlt und Status nur noch wichtig, um sich Gehör zu verschaffen. Ein Rauswurf? So what, die Existenz ist gesichert. So lauert kaum noch eine Gefahr, wenn sie die formellen und informellen Regeln und Normen großzügig interpretieren oder hinterfragen.
Das innere Feuer entfachen
Wenn die Menschen dann noch Feuer haben, ist das die beste Karrierebasis überhaupt. Ich glaube, dass Unternehmen aktuell viel mehr Leute brauchen, die die unangenehmen, aber notwendigen Dinge deshalb machen, weil sie aus Erfahrung klug geworden sind. Und eine Erfahrung ist höchstwahrscheinlich, dass wir Dinge nur verändern können, wenn wir verstanden haben, dass das nur mit Konflikten geht (siehe Newsletter No. 49).
Ich habe viel mit Führungskräften gearbeitet, die dafür noch zu jung sind. Mit 50 ist der letzte Karriereschritt eben oft noch nicht gemacht. Mit 35 ist da wahlweise zu viel Idealismus/Altruismus, Sturm und Drang eben oder berechtigtes Bedenkentragen und Folgen-Abwägen.
Nachhaltiger als stürmischer Idealismus
Dieses Abwägen halte ich für wichtig - doch dafür muss man sich klar machen, welche Handlungsmöglichkeiten es gibt. Es braucht ein wenig “Slowdown”.
„Warum sagst du nicht die Wahrheit“, fragte ich neulich jemanden. Ich meinte damit nicht „sag die Wahrheit“. Es war eine ehrlich offene Frage. Ich bin eine Befürworterin sinnstiftenden, sinnbewahrenden und strategischen Lügens. Ich muss anderen nicht Dinge auf die Nase binden, die ihnen jetzt nicht weiterhelfen.
Ich gebe auch keine Werturteile wie gut oder schlecht. Strategisch und pragmatisch kluges Lügen ist ein Nicht-Sagem - und oft nachhaltiger als stürmischer Idealismus. Zukunftsprognosen sind in einer Abwägung ja immer enthalten.
Die Uhr wird zurückgestellt werden
Arno/Anette denkt und handelt auch strategisch-pragmatisch. Er/sie weiß, dass die neue Geschäftsführung aus einem Beratungshaus kommt und die Uhr zurückstellen wird. Da geht es um Einsparpotenziale und typische Gegenbewegungen, die ein Gleichgewicht herzustellen suchen. “Temporäre Regression” kennt sowohl die Biologie als auch Neurowissenschaft und Psychologie. Solche Regressionen sind nie dauerhaft, denn sie erzeugen die nächste Gegenbewegung. Und sie können das alte nicht wegwischen, denn die Muster haben sich schon verändert. Die Menschen sind schon anders. Wer einmal begonnen hat zu reflektieren, hört nicht mehr auf. All das weiß Arno/Annette.
Er könnte jetzt als Schlaumeier agieren und sagen, was er denkt. Doch das würde nicht ankommen. „Working underground“ ist effektiver. Es geschieht im Sinne der gesamten Organisation und darüber hinaus. So denkt er. Das könnte ich jetzt mit Ich-Entwicklung zusammenbringen. Strukturell ist es die Fähigkeit einer „E8“ nach Loevinger, auf die er zurückgreifen kann. Man kann es aber auch viel einfacher ausdrücken: Er kann seine Entscheidungen an etwas ausrichten, das übergeordnet ist, ohne sich selbst zu verlieren.
Eine singstiftende Perspektive auf Zeit
Wir könnten auch Mut darin erkennen. Oder eine Perspektive auf Zeit, die nicht nur durch die Chronologie geprägt den römischen Gott Chronos berücksichtigt, sondern auch den Zauber des rechten Moments (Kairos) und die Liebe zur Sinnstiftung in Zeit und Raum (Äon).
Dazu passt der folgende 5-Minuten-Ausschnitt aus einem Podcast-Interview mit Prof. Klemens Skibicki über Zeit:
Klemens Skibicki, seines Zeichens Wirtschaftshistoriker, fand meinen „Arno“ übrigens auch cool. Unser vollständiges weiterdenkenes Gespräch über Veränderung im Licht der Geschichte folgt im Laufe der Woche. Wir brauchen die Learnings aus der Vergangenheit für die Zukunft.
Ich bin voller Bewunderung für Menschen, die ihr Feuer dafür nutzen, auf eine klug Art Weichen zu stellen. Das braucht die Fähigkeit zur Wahrnehmung - und den Mut diese dann einzubringen, wenn sie veränderungshinderliche Muster kontrastiert.
Das ist viel, viel lehrreicher als nur der Blick in die Zukunft.
Bleibt also mutig - und wägt vorher ab, was ihr zu verlieren habt. Oder auch nicht.
Foto: Saimen. / photocase.de
Weiter: Lesen, Sehen & Hören
Buch-Tipp: entfällt, bin nicht zum Lesen gekommen ;-)
Podcast-Tipp 1: “Das Thema Veränderung braucht psychische Wahrnehmung” von Klaus Eidenschink, erschienen am 2.7.23 fand ich sehr aufschlussreich und wichtig. hier
Podcast-Tipp 2: “Wenn ich nicht auf dem Rasen stand, spürte ich Leere”. Das Interview mit Subotic fand ich sehr aufschlussreich für Ich-Entwicklungsforschende wie mich. Viele Merkmale postkonventionellen Denkens. hier
Video-Tipp: Gert Scobel über Komplexität. Manchmal ist er mir zu moralisch, aber erklären tut er gut. hier
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