Nehmt den Zweifeln das Kommando
Newsletter 022: Vom Umgang mit Impostor-Syndrom, Unsicherheit und Perfektionismus
Newsletter Nr. 022: Ist in Wahrheit alles Fassade?
Menschen mit Impostor-Syndrom sehen sich oft als Goldfisch in einem Teich voller Haie. Die anderen jedoch sehen den Hai in ihnen - in jedem Fall nicht das kleine Fischlein. Die gefühlten Größenverhältnisse sind also umgekehrt. Impostor kompensieren deshalb: Sie leisten mehr, um das gefühlte “weniger” oder “kleiner” zu überdecken.
In jedem positiven Feedback sehen sie letztlich vor allem eins: Die anderen haben noch nicht durchschaut, dass sie in Wahrheit Hochstapler sind. Die anderen erkennen nicht, dass alles in Wahrheit Fassade ist. Aber wie lange bleibt das noch unentdeckt? Wann wird man enttarnt? Wer wird die Mängel, Fehler und Unzulänglichkeiten endlich bemerken? Was muss man zur Aufrechterhaltung der Fassade tun?
Auch ich selbst kenne den ungnädigen Blick auf mich selbst. Wer wird bemerken, dass ich dieses Fachbuch nur zu 20% gelesen habe und nicht in die absoluten Tiefen gedrungen bin? Es gab Zeiten, da fragte ich mich, warum meine Kunden so zufrieden waren - und immer wieder kamen. Auch an Vorträge habe ich mich lange nicht getraut. Ich bin eben keine Entertainerin, und will auch nicht so werden, wie einige, die immer noch die SMART-Formel als Weisheit letzter Schluss verkaufen.
Inhaltliche Perfektionisten
„Wir sind inhaltliche Perfektionisten“, beruhigte mich eine Kollegin. „Die anderen dreschen Phrasen. Wir würden das nie tun.“ Langsam gewöhne ich mich an den Gedanken.
Jetzt habe ich gerade noch mal den Hochstapler-Test gemacht. Nur noch leicht erhöhte Werte. Im Grunde weiß ich ja, was da los ist. Ich bin tatsächlich eine Perfektionistin in Bezug auf die Dinge, in denen ich gut sein möchte (bei den anderen dagegen gar nicht). Alle mit Hochstapler-Syndrom sind das irgendwie.
Ich nahm mich nie als Perfektionistin wahr, eher im Gegenteil. Meine guten Noten fühlten sich ermogelt an, weil ich nur punktuell lernte. Die meisten Dinge kamen in meinem Langzeitgedächtnis nie an.
Perfektionismus hat viele Gesichter
Dass ich Bücher oft nur zu überfliegen brauche, um die wesentlichen Aussagen zu erfassen, dafür schämte ich mich früher. „Ein ordentlicher Mensch liest von vorne bis hinten!“ mahnte mich mein innerer Kritiker. Erst im Laufe der Zeit verstand ich, dass das aus meiner Biografie kommt. Und ich merkte: Perfektionismus hat viele Gesichter. Es ist eben nicht nur die übertriebene Detailorientierung. Wer weiß, woher sein Perfektionismus kommt, weiß auch wie man damit umgeht.
Etwa 20% der Menschen tragen ein Impostor-Syndrom mit sich herum. Manche nennen diesen Typ Leistungsmensch auch Insecure Overachiever, unsichere Leistungsmenschen. Dieser Begriff wurde von einem Mc-Kinsey-Berater geprägt, ist also eher aus der Praxis entstanden. Die Hochstapler, die keine sind, sind in der Psychologie auch untersucht.
So oder so: Es treibt immer Leistung - und damit Anerkennung. Anerkennung ist das wahre Motiv hinter einer Leistung, die nicht aus sich selbst kommt. Und an genau dieser Stelle entsteht eben oft auch der Stress. Merke: Diese Anerkennung ist nicht immer generell gesucht. Es geht bisweilen auch um die Anerkennung einer bestimmten Gruppe, mit der man sich identifiziert.
Verschobene Messlatte
Es handelt sich folglich um einen hinter der Suche nach Anerkennung verborgenen Perfektionisten, dessen Messlatte in einem entscheidenden Punkt verschoben ist. Dieser Punkt - ist die Sicht auf sich selbst. Die Selbsteinschätzung ist deutlich schlechter als das Fremdbild, mindestens punktuell. Oft braucht es auch nicht mal äußere Kritik, um den inneren Motor anzuzünden:
Einige Leistungsmenschen arbeiten auch ohne Kritik immerfort an sich, in Vorleistung sozusagen. Bei ihnen verpufft jedes positive Feedback. Angestellt schleift die Overachieverin Folien, merzt Fehler aus, investiert mehr Zeit als nötig wäre. Selbstständig gibt sie auch dann noch mehr als ihr Bestes, wenn der Auftrag eigentlich längst erledigt sein könnte. Den eigenen Wert zu erkennen und auszuhandeln fällt typischerweise schwer.
Muster aus extremen Anstrengungswillen und Selbstunsicherheit
Das Muster aus extremen Anstrengungswillen und Selbstunsicherheit macht Leistungsmenschen anfällig: Verlieren sie die gewohnte Anerkennung, fallen sie tief. Sie neigen zudem zu Überanstrengung, die in den Burnout führen kann. Sie sind oft auch manipulierbar. Das gilt vor allem dann, wenn sie in der vertikalen Entwicklung nicht vorankommen. Das merkt man an einer starken Richtig-/Falschsicht oder an unverarbeiteten Schattenthemen. In dem Fall fehlt der Mechanismus, sich gedanklich wieder aufzurichten. Und ganz einfach zu sagen: „Was für einen Blödsinn denkst du da über dich selbst?“
Was für einen Blödsinn denkst du da über dich selbst?
“Nimm den Zweifeln das Kommando” lautet im übrigen auch der Titel eines Buches meines geschätzten Kollegen und Gestalttherapeuten Tom Diesbrock. Darin steckt schon die wichtigste Botschaft: Geh in das innere Gespräch, aber lass dich nicht von „Lehrer Naseweis“ belehren. Das ist jene symbolische Figur, die für den Anteil stehen kann, der den Stress macht. Sie verkörpert jenen Eltern- oder Erziehungsteil, der das forderte, was jetzt im Übermaß gegeben wird. Es kann auch sein, dass er oder sie bestrafte. Oder sich der übertriebene Anteil aus der Abgrenzung zu Geschwistern entfaltete.
Was tun, um sich zu stärken?
Eine wirkungsvolle Methode, sich das bewusst zu machen, liegt darin, sein inneres Team aufzustellen. Der unsichere Leistungsmensch entwickelt in mindestens einem Anteil eine Form des angepassten Kind-Ichs. Es hat die Erfahrung gemacht, dass nichts gut genug ist. Es manifestierte sich in der Folge ein Ich-Persönlichkeitsanteil, der sich beispielsweise stark über gute Noten und äußere Leistungen definiert.
Im übrigen erklärt das, warum gerade diese Menschen oft keine geborenen Teamplayer sind. Die Aufmerksamkeit ist nicht auf das Soziale gerichtet, sondern auf sich selbst oder die eigene Rolle im Sozialen. Eine Tendenz der Overachiever kann die Vermeidung von Feedback auf allen oder einer bestimmten Ebene sein. Feedback aber kann eine wichtige Chance zur Selbstbefreiung sein - wenn es von vertrauten Menschen kommt, die den Entwicklungspunkt sehen - oder noch besser fühlen.
Bessere Version von dir selbst
Das innere Team kann man so auch - etwa durch coachende Hilfe - in eine bessere Version von sich selbst bringen. In ihr wachsen neue Anteile - oder alte gehen weg. Neu entstehen oft die, die schon früh verschüttet waren oder unterdrückt wurden (“sei nicht so…!”). Sie verkörpern die verborgenen Talente und Stärken, die unter Schichten vergraben liegen. Andere Persönlichkeitsanteile verwandeln sich - sie werden erwachsen.
Das innere Team ist deshalb auch eine Methode zur Arbeit in der vertikalen Entwicklung. Die horizontale Entwicklung ist die Art und Weise, wie das man sich selbst jetzt interpretiert. Es ist das, was Persönlichkeitstests messen, etwa die Big Five. Doch der wahre Spielraum und die echte Freiheit liegt in der vertikalen Entwicklung.
Wer sich diese nimmt, verwandelt sein inneres “Rumpelstilzchen” mit cholerischen Anfällen in einen entspannten und empathischen Menschen. Wer sich diese nimmt, kann die eigenen inneren Teammitglieder erwachsen werden lassen – und manche Teammitglieder auch einfach wegschicken.
Oft bleibt die Frage: Ist das von mir, bin ich das – oder ist das jemand anderes? Viele Menschen im Beruf realisieren die unerfüllten Wünsche von anderen. Sie springen in eine Lücke, übernehmen einen Auftrag – und wenn es nicht der eigene ist, profitiert oft vor allem einer - auf kurze Sicht gedacht - vom Leistungsüberschuss: Der Arbeitgeber.
Und so ist es wie mit allen Übertreibungen: Sie ermöglichen viel, aber sie begrenzen auch eine Menge. Wo man selbst in diesem Spiel steht? Es lohnt sich, das ab und zu fragen. Auch im Team ist es eine Möglichkeit, sich zusammen für Entwicklung zu öffnen.
Im Kasten habe ich einen Hochstapler-Test und weitere Hintergründe verlinkt.
Weiterlesen & mehr
Über die verborgene Dimension der Persönlichkeit und damit vertikale Entwicklung habe ich hier geschrieben
Über Insecure Overachiever gibt es hier einen Beitrag.
Das Buch von Tom Diesbrock „Nimm den Zweifeln das Kommando“ hat tolle praktische Checklisten und ist bei GU erschienen.
Auf der Seite von Tina Pichler könnt ihr den Impostor-Test auf deutsch machen.
Die Kraft des guten Feedbacks mit meinem Feedbackfächer hilft auch Impostorn: hier bei Teamworks.
Inspiriert hat mich diese Woche
“How can you introduce more surprise into your life as an adult? How can you renew your sense of childlike wonder?” Dieses Zitat und dieser kleine Blog von James Clear.
Ein Gespräch mit Martin Permantier über Psyche und Systemik – mein zweiter Podcast bei Ich-Wir-Alle folgt bald.
Die Stadt Fulda – da war ich wirklich zum allerersten Mal… und wurde dort bei Thalia noch mal an Toms Buch erinnert. Einerseits ein Super Tipp, andrerseits ein hoffentlich funktionierender Titel für diesen Beitrag. By the was: Gruß an alle Fuldaer.
Termine:
Am 2.12. halte ich auf dem internationalen Management-3.0 -Kongress eine Keynote (Hybrid): “Connecting Rots”. Hier könnt ihr euch anmelden.
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Foto von Omolo Tavani – istock.com