Mit Gefühl
No. 62 Wie Emotionen in Organisationen Veränderung ermöglichen, bremsen und blockieren
No. 62 Wie Emotionen in Organisationen Veränderung ermöglichen, bremsen und blockieren
Emotionen sind pure Veränderungskraft. Aber sie bremsen und blockieren auch. Denn sie sind mehr als die Summe der Gefühle von Einzelnen. Sie transportieren Sachlagen – auch jenseits derselben. Verrückterweise entkoppeln sie sich oft von Inhalt und verbinden sich zugleich mit demselben. Sie verwandeln sich in verschiedene Arten von Energie, auf die ich noch eingehen werde. Warum das “systemisch” ist und was das für die Arbeit in und mit Organisationen bedeutet - darum geht es in diesem Beitrag mit Ratgeberteil.
Eine persönliche Frage zum Einstieg: Welche Emotionen kommen bei dir hoch, wenn du an deine jetzige Regierung denkst? Wie unterscheiden sich diese Gefühle von der Zeit, als diese Regierung ihre Arbeit aufgenommen hat? Wenn du das in ein Bild übersetzen würdest, wie sähe dieses aus? Welche Farben hätte das Bild. Ich habe meine zeitlich wechselnde Stimmungslage mal in KI übersetzt: Von Hoffnung am Anfang über Desillusionierung zu Frust und Ärger. Der Übergang hätte etwas weicher sein können. KI “denkt” eben auch noch wie wir Schwarzweiß.
Eine im Zeitverlauf veränderte emotionale Gemengelage ist spezifisch für Entwicklungen, die einen expliziten Anfang markieren. Das ist da, wo etwas “Neues” passiert ist, der Knopf „Restart“ gedrückt wurde. Ein Programm, eine ausgetauschte Geschäftsführung, die strategische Neuausrichtung...
Lenke dann deinen Blick auf die Organisation, in der oder für die du arbeitest. Wie ist es da? Welches Bild würde von dir gepromptete KI malen, wenn sie die kollektive Stimmung zu unterschiedlichen Zeitpunkten beschreiben würde? Was bewirkte ein neues Programm, eine ausgetauschte Geschäftsführung oder die strategische Neuausrichtung in Sachen Energie? Und wie veränderte sich das dann über einen Zeitraum von manchmal wenigen Wochen - und nicht selten Jahren?
Hoffnung brauchte mehrere Komponenten.
Emotionen vermehren und verändern sich ständig. Sie verbinden und entkoppeln sich von Personen und von Inhalten. Es sind nicht nur die individuellen Gefühle einer Person, sondern immer auch die Projektionen der Anderen. Das alles ist wechselhaft, aneinandergereihte Momentaufnahmen.
Ein einziger, besonders energetischer Mensch kann die Stimmung hin zu länger anhaltendem Optimismus wenden. Er oder sie kann anstecken, begeistern. Er oder sie kann aber auch desillusionieren, entzaubern.
Es braucht dafür nur eins: Menschen, die empfänglich sind, die sich anstecken lassen wollen.
Neben dem oder den Menschen ist dazu auch ein Thema nötig, eine Idee, die gerade jetzt passt. Hoffnung ist ein Mehrkomponentenkleber.
Da muss jemand kommen, der ein bestehendes Muster aufzubrechen verspricht. Svenja Hofert
Dabei geht es vor allem um eines: Das Versprechen, das bestehende Muster aufzubrechen. Es ist ein Schwarz-Weiß-Versprechen, sonst würde es nicht funktionieren.
Welches das ist, hat mir der jeweiligen Vorgeschichte zu tun. Ob die große Visionärin durch den pragmatischen Hands-On-Umsetzer abgelöst wird oder der pragmatische Hands-On-Umsetzer durch die große Visionärin: Hoffnung vermehrt sich da, wo das Neue genau die Energie mitbringt, die bisher fehlte. Oder wo jemand auf das Fehlende hinzuweisen meint: Der Klempner der Macht bringt auch den Retter in der Not.
Es geht stets um ein Gegengewicht, das einen Zweck erfüllt. Auch das, was viele Agilitätsjünger aktuell als Rückschritt zu erkennen meinen, ist genau das: Ein Gegengewicht. Zu viel Basisdemokratie schreit nach klaren Ansagen, zu viel Laufenlassen nach Steuern.
Was sind Emotionen?
Emotionen sind das, was bewegt. Sie schlagen sich in individuellen Gefühlen nieder, die keineswegs kulturübergreifend gleich sind und die wir durchaus nicht eindeutig in Gesichtern lesen. Sie sind die Basis für Stimmungen, die länger anhalten. Für Lisa Feldman Barett, die die aktuellste Emotionsforschung betreibt, sind es Vorahnungen. Sie haben also mit den vorhandenen Mustern zu tun, sind ergo kontextabhängig.
Systemtheoretisch spielen Emotionen keine Rolle. Dort sind sie nicht erwähnt oder subsummiert in Kommunikationen. Systemisch dagegen sind sie überaus relevant.
Da deuten sie auf Ungleichgewichte, beispielsweise in
Konfliktsysteme,
Wirklichkeitskonstruktionen,
Grundannahmen und
(verletzten) Systemprinzipien.
Sie sind ein Hinweis auf funktionale und dysfunktionale Beziehungen in und zwischen den gleich- und übergeordneten Systemen. Diese Sicht macht Emotionen bearbeitbar – zum Beispiel durch Wahrnehmung und Austausch der Wahrnehmungen.
Wenn vorherige Lösungen zum Problem geworden sind
Gegengewichte braucht es, wenn zu viel von etwas eine vorherige Lösung zum Problem macht. Natürlich waren die meisten Lösungen nie wirkliche Lösungen, aber das will keiner sehen. Oft waren sie vielmehr Symptom (lese hierzu “Die Lösung verhindert die Lösung”).
Wer neue Lösungen verspricht, vertritt diese mit Leidenschaft und Deutungshoheit. Die sachliche Analyse wird allzugerne kollektiv geopfert, wenn das Versprechen in Form eines Wortes oder Spruchs daherkommt: „New Work“ oder „Wir schaffen das“ transportieren insofern eine gleichgerichtete emotionale Kraft.
Die Lösung, die eigentlich keine war, wird verantwortlich gemacht. Weshalb gerade so viele Agilisten in der Sackgasse stecken. Sie können Agilität nicht mehr pragmatisch betrachten, ohne Deutungshoheit zu verlieren. Und es liegt nicht daran, dass wir all das was agiles Arbeiten bringen könnte, nicht dringend brauchen würde. Es liegt daran, dass Worte und die sie transportierenden Personen abgenutzt und gar verbrannt sein können.
Zu viel von X, erfordert eben Y.
Die Pendelbewegung ist eine ewige, was stabilitätshungrige Menschen ungern annehmen wollen. Sie möchten ankommen in der Zukunft. Doch die Wahrheit: Zukunft ist nie. Es ist eine wandelbare Fantasie. Gegenwart ist Vergangenheit. Und ein emotionaler Ausschlag deutet auf gegenwärtige Dysbalance. Angestrebt ist Gleichgewicht, sowohl vom einzelnen Menschen als auch von der Gruppe. Zu viel von X, erfordert Y.
Aber was ist, wenn jemand an der einen Seite des Pendels hängt und bisher nur in eine Richtung geschwungen ist? Das passiert etwa Beratern, die an „Inhalt“ gebunden sind und nicht an Prozess.
Sie fallen herunter, wenn das Pendel zur anderen Seite ausschlägt.
Da wo „Agile“ zu einer emotional aufgeladenen Bewegung geworden ist, besteht diese Gefahr ganz besonders. Dann kann aus der ehemals nach vornetreibenden Energie eine blockierende werden. Die Organisation, die nicht denkt, wird erkennen, das systemische Eingriffe nötig sind.
Gefährlich für Veränderung: Die emotionale Fusion
Wenn das Pendel festgeklebt an einer Seite, bleibt auch die Sache auf der Strecke. Wenn ich etwa von agilen Führungskräften Aussagen höre wie „Ich halte nichts vom Messbarkeit“ deutet das für mich auf ein grundsätzliches Missverständnis und eine emotionale Fusion mit einem Thema.
Was der Einzelne von etwas hält, ist für den Zweck völlig unerheblich. Die Frage ist doch nur, was diesem Zweck dient. Ok, dafür müsste man mal nachdenken… auch über eigene Gefühle.
Ein Beispiel: Kürzlich war ich in einer Organisation, in der alle von New Work schwafelten. Man bezeichnete sich sogar selbst als New-Work-Organisation. Aber man hatte noch papierne Akten und durfte nicht mal mehr Vorträge aufzeichnen, um diese anderen verfügbar zu machen. Es war datenschutzrechtlich alles verboten, was Sinn machte.
Diese pathetisch ausgerufene New-Work-Organisation diente nur einem: Kurzfristig die Hoffnung zu verbreiten, das darin eine Lösung stecken könnte. Aber der energetische Einbruch war schon sichtbar. Die Leute sind schlau, sie spüren wenn man sie… verarscht.
Energie ist das kollektive Substrat von Emotionen.
Energie ist die Kraft, die wir brauchen, um etwas zu tun. Die physikalische Kraft braucht die psychische Energie. Energie verwandelt sich vor Ort in produktive, korrosive, resignierte oder träge Energie (Bild im Raid-Sektor). Externe Berater spüren Energie meist intuitiv, weil sie viele unterschiedliche Energien erleben. Jede Kultur hat auch eine ganz eigene Energiekomponente. Und etwas, was genau hier fehlt.
Aus meiner Sicht würde auch das Recruiting davon profitieren, nicht nur die Frage nach Kompetenz zu stellen, sondern auch nach Energie. Dabei müssen wir uns klar darüber sein, dass alles irgendwann verbraucht sein wird, und dann wieder ganz anderes nötig sein wird. Unsere Systeme sind auf den sich daraus ergebenden immerwährenden Wandel aber nicht ausgerichtet.
Geht es jetzt gerade um einen „Klempner der Macht“ oder um eine „Architektin der Zukunft“? Was gerade gebraucht wird, hängt entscheidend davon ab, was vor Ort gerade vermisst wird. Die Menschen sind schlau, sie spüren das.
Willst du praktischen Rat zum Umgang mit Energien, lies den zweiten Teil dieses Beitrags hinter der Paywall. Dort findest du auch einen Podcast.
Beitragsfotos: erstellt mit KI, Copyright Svenja Hofert
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