aktualisiert 19.11.2023
Meine erste Ausgabe von “Weiterdenken” widmete ich dem Gefühl. Das ist jetzt über ein Jahr her und die Welt hat sich verändert. Aber das Gefühl ist immer noch zentral. Deshalb das Update. Ich habe auch ein neues Bild. Ich habe es mit KI gepromptet. Es sollte im Stil von Dali sein. Es sollte eine Geschichte in vier Teilen erzählen: Wie KI menschliche Emotionen interpretiert und dabei versteht und missversteht.
Das Gefühl wird nicht nur von KI oft nicht richtig verstanden. Seine Bedeutung in der Transformation wird unterschätzt. Wir wollen sachlich sein und rational. Aber in Wahrheit rationalisieren wir nur, damit unsere Gefühlswelt in Balance bleibt. Rationalisieren heißt: Wir suchen Worte, die zu unseren Gefühlen passen.
Wir suchen Worte, die zu unseren Gefühlen passen. Svenja Hofert
Die BWL träumte lange vom Homo oeconomicus. Das ist ein rationaler und insofern berechenbarer Nutzenmaximierer. Aber wie kann es dann sein, dass manche Menschen an völlig irrationalen Überzeugungen festhalten? Wie kann es sein, dass sie so offensichtlich gegen ihren eigenen Vorteil handeln?
Die Psychologie beschäftigt sich erst mit Gefühlen, seit dem uns die Neurowissenschaften einen neuen Zugang gegeben haben. Mit Emotionsforschung war lange kein Blumentopf zu gewinnen. So kommt es, dass wir erst in letzter Zeit mit dem Kern der Gefühle in Berührung kommen. Und so langsam verstehen, dass wir wenig darüber wissen.
In der Corona-Pandemie schien das Gefühl im Berufsalltag angekommen zu sein. Man sprach über das, was einen bewegt. Gerade scheint mir das wieder im Rückbau begriffen. Zu viel Gefühl… Die Menschen können es nicht regulieren. Aller Achtsamkeit zum Trotz sind sie von sich selbst überfordert.
Bei aller Gefühlsduselei bleibt ein wichtiger Aspekt oft unbeachtet: Das Streben nach dem Erhalt dessen, was ist. Selbst, wenn es nicht gut ist. Wenn wir uns verändern, gerät unsere Gefühlswelt in Wallung, es geht drunter und drüber. Gefühle sind geeignet, sicher geglaubte Gedankengebäude zum Einsturz bringen. Das Streben, genau das zu vermeiden, ist ganz natürlich. Denn vor der Dysbalance widerstreitender Gefühle haben wir Angst… wenn wir sie denn überhaupt fühlen und benennen können.
Alles beginnt mit einem Gefühl
“Ich weiß gar nicht, wie sich Angst anfühlt”, sagte mir einer meiner Coachees. Er ist im Homo Oeconomicus-Glauben sozialisiert, ein Informatiker. Er hat keine Geschichte zu diesem Gefühl im Berufsalltag. Das liegt daran, dass er noch nie darüber nachgedacht hat. Wo keine Gedanken, da auch kein Gefühl. Da sind wir abgeschnitten von unserem Körper. Gedanken verbinden Körper und Geist, ebenso wie sie trennen. Denn Gedanken haben eine ganz andere Funktion als viele glauben: Sie bringen Körper und Geist zusammen.
Affective KI nutzt mit dem Ekman-Modell falsche Grundannahmen
In der Psychologie unterscheiden wir Gefühle und Emotionen. Gefühle sind subjektive Eindrücke. Emotionen sind übergreifend, übersubjektiv. Viele haben versucht Gefühle zu verallgemeinern und Emotionen zu orten. Paul Ekman hat es damit bis in die Praxis, auch die der Coachingausbildung geschafft. Er versuchte in Experimenten mit Schauspielern nachzuweisen, dass es kulturübergreifende Gefühle gäbe. Das Gefühl stünde den Menschen also ins Gesicht geschrieben. Darauf bauen nicht wenige immer noch. Auch KI-Algorithmen beruhen darauf. „Affective Compu- ting“ (auch „Emotion-AI“) nutzt Ekmans Modell. Ein Modell, das offensichtlich auf einer falschen Grundannahme beruht.
Gefühle sind Vorahnungen
Die Neurowissenschaftlerin Lisa Feldman Barrett wiederholte einige von Paul Ekmans Experimenten aus den 1970er und 1980er Jahren. Sie konnte seine Ergebnisse nicht reproduzieren. So zeigte sie zurückgezogen lebenden Stämmen ein Bild einer im westlichen Sinn überraschten Person. Da sagten einige ihrer Probanden: „Der Mann jagt.“ Manche von Feldtman-Baretts Probanden konnten auch Trauer nicht von Freude unterscheiden. So kam die Forscherin immer mehr zu ihren eigenen Schlüssen:
Gefühle sind nur im Kontext zu verstehen. Das meint den kulturellen Kontext genauso wie den persönlichen.
Es sind individuelle Vorahnungen, die auf Erfahrung beruhen.
Durch Sprache verändern sich Gefühle. Sie differenzieren sich aus.
Körper und Sprache können sich emotional verbinden, müssen es aber nicht.
Feldtman-Barett brachte Forscher und Praktiker in aller Welt aus dem bisherigen Konzept - und deren Emotionen in Wallung. Ihr Buch “How emotions are made” aus dem Jahr 2018 sorgte für einen Knall. Erst in diesem Jahr, 2023 ,wurde es ins Deutsche übertragen.
Mit ihren Forschungen stellt sie nicht nur Ekman in Frage, sondern auch sämtliche vorherigen Verallgemeinerungsversuche. Es passt zu weiteren Forschungsergebnissen der aktuellen Zeit, etwa des Neurowissenschaftlers John Bargh, der sagt: „Das Fühlen kommt vor dem Denken“. Auch dies ist eine noch recht junge neurobiologische Erkenntnis. Sie stellt einige der Grundannahmen in Frage, auf denen wir teils unsere Workshop- und Trainingskonzepte bauen.
Workshop- und Trainingskonzepte bauen auf veraltetem Wissen
Weil wir schon Erfahrungen gemacht haben, vermuten wir in ähnlichen Situationen, erneut Ähnliches zu fühlen. Dabei greifen wir nicht allein auf die Reaktionen unseres Körpers zurück, sondern auch auf unsere Sprache. Wir haben Worte oder wir haben sie (noch) nicht. Deshalb kennt mein Coaches keine Angst. Sie ist bei ihm nicht kontextualisiert. Er hat keine Angst-Geschichte, jedenfalls nicht im beruflichen Kontext. Das hat sich übrigens inzwischen geändert. Allein Aufmerksamkeit schafft Erleben. Und das ist wichtig für Veränderung.
Wie KI menschliche Gefühle sieht
Schaue dir das Bild an, das den Verlauf der emotionalen Anstrengung beim Öffnen einer Flasche zeigen soll.
Ich habe es wie die Illustration zu diesem Beitrag auch mit KI gepromptet. Ich finde, das entstandene Bild ist krass, denn es zeigt merkwürdig überzogen, was ich darstellen möchte: Wenn wir uns anstrengen, sind unsere Gefühle einfach nicht zu deuten. Zwischen Wut und Freude - im letzten Bild - liegen Facetten, wenn überhaupt. Welche Gefühle genau da sind, ist… unklar.
Das zeigt nicht nur eindrücklich, dass KI unklare Gefühlslagen schwer interpretieren kann. Und es verdeutlicht, dass wir bei Anstrengung negative Affekte zu durchlaufen scheinen, wie auch immer wir sie dann nennen. Und trotzdem stellen wir uns dieser Anstrengung! Die Theorie also, dass wir negative Emotionen vermeiden wollen, kann nicht ganz stimmen.
Ist positiv und negativ überhaupt zu trennen?
Zeigt das letzte Bild die pure Freude oder nicht irgendwo auch etwas Diffuses wie… Siegeswut? KI jedenfalls liefert in ihrer Deutungsschwierigkeit eine kunstvolle Neudeutung. Sie macht den Grundkonflikt offenbar. Sie zeigt die ganze Uneindeutigkeit.
Uneindeutige und widerstreitende Gefühle begleiten Anstrengung, aber auch Veränderung ganz natürlich. Wir aber setzen immer noch auf einen simplen, ja primitiven Positivismus. Veränderung soll bejubelt werden. Wir sollen uns dahinter stellen. Begeistert in die Zukunft schauen.
Doch wir Menschen sind zukunftsblind! Wir sehen keine Zukunft, also bleiben wir bei dem, was ist und widmen uns überschaubaren Projekten wie dem Öffnen einer Flasche. Da wissen wir, was rauskommt. Selbst, wenn es um Veränderung in Richtung etwas offensichtlich Positivem geht meiden wir den Weg dahin, sobald er auch nur ein wenig unüberschaubar ist…
Die Hoffnung auf ein klares Gefühl
Ein Grund ist möglicherweise, dass wir zu sehr auf positive, eindeutige Gefühle hoffen. Das könnte mit den Narrativen von Veränderung zu tun haben, die uns geprägt haben. Was wäre, wenn wir mit den uneindeutigen, widersprüchlichen Gefühle rechnen würden? Denn selten haben wir nur Angst oder spüren nur Freude. Meist ist es diffus. Erst recht, wenn wir Dinge neu lernen, erfahren, etwas verändern. „Was spürst du? Ich weiß es nicht!“
Das Suchen nach einem Namen, nach einer Repräsentanz im Körper kann helfen. Manchmal kommt das Gefühl aber auch an ganz anderer Stelle und zu einer ganz anderen Zeit heraus. Wer Meditationserfahrung hat, kennt es: Da kommen plötzlich Tränen hoch, man weiß nicht, warum – und erst da wird die Trauer fassbar, aber auch die Freude. Und so klar, dass sie zusammenhängen.
Veränderung ist die Krise des Bauchgefühls
Auch Bauchgefühle sind Vorahnungen, wenn man Feldtman-Baretts Theorie folgt. Sie dienen dazu, uns in Sicherheit zu wiegen. Sie halten uns im Vertrauten, das ist ihr Sinn und Zweck. Bauchgefühle sind kritisch gegenüber allem, was wir noch nicht kennen. Deshalb fühlt sich Neues immer fremd an - bis wir das Vertraute darin gefunden haben.
Veränderung ist so nicht zuletzt oft auch die Krise des Bauchgefühls. „Frau Hofert, kann das wirklich wahr sein? Kann es wirklich wahr sein, dass ich all die Jahre ein falsches Bauchgefühl hatte?“ Es war kein falsches Gefühl. Es fehlte nur ein passender Gedanke!
Der Umgang mit widersprüchlichen Gefühlen ist entscheidend für die Lösung
In meinen fast 25 Jahren als Coach habe ich immer wieder erlebt, dass der Umgang mit widersprüchlichen Gefühlen entscheidend für einen entspannten Umgang mit Veränderungen ist. Viele suchen nach dem Glücksgefühl, nach Eindeutigkeit, ungetrübter Klarheit. Doch Klarheit ist in eine Folge vorherigen Ringens, auch des Ringens von Gefühlen. In der Arbeit mit Organisationen habe ich das auch so erlebt: Das Neue ist wie eine Geburt, das Aufdrehen einer Flasche in Groß. Es braucht die kleine und große Krise. Das ist das Wesen von Veränderung. Deshalb hat es so viele Feinde, die sie vordergründig bejubeln.
Was den Menschen vom Computer unterscheidet, ist seine Fähigkeit zum Umgang mit Ungewissheit. Er kann die Zukunft formen.
Das Fühlen braucht das Denken
Jeder Gedanke, der unsere innere Welt formt und gestaltet, beginnt mit einem subjektiven Fühlen. Aber das ist es nicht allein. Es braucht das Denken. Wenn wir Fühlen und Denken zusammenbringen, können wir nicht nur unsere Sprache differenzieren, sondern auch unsere Gefühle. Wie können selbst Widersprüche atmen lassen. Und sie genießen.
Magst du dich auf eine kleine Übung einlassen? Denk einmal an nichts. Gar nichts. Fühle nichts. Gar nichts….
Was war da? Wirklich nichts?
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Svenja Hofert: Mach dich frei. 100 mentale Modelle für klares Denken und bessere Lösungen, (Amazon)
Svenja Hofert: Hört auf zu coachen, 2. überarbeitete Neuauflage, erscheint, 2024 bei Vahlen (vorbestellbar)
Wissenschaft
Lisa Feldman-Barett ist eine der einflussreichsten Emotionsforscherinnen weltweit. Sie hat die bisherige Lehre auf den Kopf gestellt und auch die Medizin beeinflusst. Ihre Thesen konterkarieren das ältere Modell von Paul Ekman, auf dem auch einige Coachingmethoden wie Mimikresonanz beruhen. Auch Künstliche Intelligenz wird oft mit dem Modell von Ekman gefüttert. In diesem wunderbaren Video erfahren Sie sehr leicht verständlich, was ihre Theorie aus macht.
Wer lieber liest, findet in meinem Blog eine Zusammenfassung der Theorie von Feldman-Barett.
Auch die Psychologin Susan David beschäftigt sich mit Emotionen. Über ihr Modell der Emotional Agility habe ich hier geschrieben.
Praxis
Zum Thema Emotionen in Gruppen habe ich ein Video aufgezeichnet. Natürlich freue ich mich auch über Abonnenten meines Videokanals.
Den praktischen Umgang mit Emotionen fördert der von mir entwickelte Feedbackfächer, der sich bei Teamworks GTQ findet.
“Ran an die Gefühle” - meine XING-Kolumne gibt 5 praktischen Tipps im Zusammenhang mit Agilität
Emotionen sind auch wichtiges Thema in meinem neuen Buch “Business Showdown”, das Sie bei Amazon oder direkt bei Gabal vorbestellen können.
In unserem Teamworks-Seminaren “Psychologie der Veränderung” und “Nextlevel Coaching” kommt der Arbeit mit Emotionen ein großer Stellenwert zu.
Foto: istock Paul Bradbury
Offene Termine
Die nächste Masterclass Mindshift mit 2 Liveklassen startet am 15. Januar 2024! Hier könnt ihr mir in 2 Livesessions Fragen stellen und in 4 Modulen an der nächsten Stufe eurer Professionalität arbeiten. Hier buchen.
Dein Nextlevel: Im nächsten Jahr sind zwei 4-Tages-Kurse mit mir auf Gut Kattendorf in Schleswig-Holstein geplant. Der erste findet im April statt. Er richtet sich an Menschen, die gezielt an sich selbst arbeiten möchten - um wirksamer mit den Herausforderungen der Transformation umzugehen. Dafür müsst ihr ein Ich-Entwicklungsprofil haben (IE-Profil, Steges etc.) oder noch erstellen wollen. Frühzeitige Anmeldung ist wichtig. Infos.
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Beitragsfoto: KI
Danke für diesen wichtigen Beitrag. "Widersprüche atmen lassen" scheint mir eine der großen Herausforderungen unserer Zeit zu sein. Und zeitgleich eine unserer größten Chancen. Ich selbst arbeite aus diesem Grund mit kognitiver Diversität und dem damit verbundenen Nutzen sehr unterschiedlicher Herangehensweisen in der Problemlösung. Widersprüchlich reagiert auch nicht selten unser Körper (z.B. wenn das Gefühl nicht einig ist mit dem Verstand) - dabei hilft mir bewusste Atemarbeit.