Glück ist die Erfindung eines Lügners
No. 45: Systemlogiken und die Grenzen einer schönen Arbeitswelt
No. 45: Systemlogiken und die Grenzen einer schönen Arbeitswelt
Vor einiger Zeit war ich Gast in einem modernen Unternehmen. Es gab eine Sonnenterasse, einen eigenen Koch, schöne Räumlichkeiten und fortschrittliche, zugewandte Führungskräfte. Dennoch verließen immer wieder Mitarbeitende die Firma, auf der Suche nach dem heiligen Gral der Zufriedenheit.
Zufriedene Menschen lästern auch
Es wurde auch gelästert. Ein so hoher Workload! Anwesenheitspflicht beim Meeting. Und unverschämterweise dürfe man oft nicht mal die Homeofficetage frei wählen. Der Strickkurs für mehr Achtsamkeit im Privatleben war auch nicht genehmigt worden…
Die Relativitätstheorie der Zufriedenheit: Es kann noch so gut sein, gemeckert wird trotzdem. Svenja Hofert
Das hat mir einmal mehr die Relativitätstheorie der Zufriedenheit vor Augen geführt. Einflussfaktoren sind vielfältig, aber kaum objektivierbar. Vieles hängt von der individuellen Bewertung und gruppendynamischer Meckerspiralen ab. Und vom Vergleich: Was kennen die Leute sonst noch so? Ich habe Belegschaften zwischen Kisten und in Einzelhaft arbeiten sehen. Statt Kantine ein Süßigkeitenautomat. Sie kannten nichts anderes.
Gruppendynamische Meckerspiralen
Deshalb waren sie genauso zufrieden oder unzufrieden wie die Verwöhnten. An seine Führungskräfte gewöhnt man sich auch. An die guten - sowie auch an schlechte, z.B. an solche, die nicht führen, weil sie Einflussnahme hassen. Und an solche, die aufgrund fehlender Selbstregulation mit Gegenständern um sich werfen… ganz ausgestorben sind sie nicht.
Alles ist eben relativ zu dem, an was man sich gewöhnt hat.
Denn Führungskultur ist auch eine Folge der wirtschaftlichen Position eines Unternehmens. Miese Kulturen entstehen in den Branchen des Niedergangs - und dort wo der Rasen nie umgepflügt wurde, wo also jeder reinwachsen konnte. Dann geht es irgendwann nicht mehr mit milden Mitteln, der Rasen müsste ganz neu. Aber es ist kein Geld da und loswerden kann man die Disteln auch nicht mehr…. Und schon ist er da, der Teufelskreis.
“Orientier dich bloß nicht an den Arbeitgeberlisten der Vergangenheit”, hörte ich mich kürzlich zu meinem Sohn sagen. “Setz´ auf die, die´s jetzt gerade leicht haben gut zu sein.” Erst als ich es ausgesprochen hatte, erkannte ich die Tragweite dieses Satzes - für andere.
“Setz´ auf die, die´s jetzt gerade leicht haben gut zu sein.”
Führen ist leicht, wenn man startet und alles rund läuft. Wenn nicht, rettet auch guter Führungsstil nichts mehr, wie wir gerade bei Thyssen sehen. CEO Martina Merz, angeblich mächtigste Frau Deutschlands, anerkannt für ihren guten und empathischen Führungsstil, hat diese Woche hingeworfen. So mächtig war sie wohl nicht. Und schon haben wir eine weniger in den deutschen Vorstandsetagen und eine Geschichte mehr.
Aber wir entscheiden über Narrative. Meines geht so: Man nimmt gerne Frauen, wenn eine lange Geschichte des Niedergangs auszubaden ist und selbst “Mann” in ihnen die Rettung sucht. Aber so schnell kann niemand einen Laden unter schwierigen Markt- und Mitarbeiterbedingungen drehen. So werden Erfolg und Misserfolg oft fälschlicherweise Personen zugeschrieben, die aktuell am Ruder sind…
Die etwas andere Relativitätstheorie
Alles ist eben relativ: zu der jeweiligen Unternehmensphase, zur (Nach-)Wirkung von Maßnahmen oder zur Auswirkung von Fehlentscheidungen. Die Wirkung ist selten unmittelbar, sie wird aber auf das bezogen, was gerade sichtbar ist: Frau Merz eben - und nicht die vergangenen falschen Entscheidungen.
Diese Relativität gilt auch für die Zufriedenheit von Mitarbeitenden. Damit ist es so wie mit Auswanderern, die kurze Zeit nach dem Auswandern so unglücklich sind wie vorher. Oder Millionären, denen es kaum besser geht als Normalverdienern. Sie wird sich also anpassen, Tendenz zur Mitte und zum individuellen Glücksempfinden. Dafür kann kein Unternehmen zuständig sein, dessen Logik sowieso eine ganz andere ist. Menschliches Wohlbefinden kommt da nicht zuerst, sondern strategische Entscheidungen - zugunsten des Selbsterhalts.
Wenn es hart auf hart kommt, greift brutale Systemlogik.
Insofern ist die Entscheidung des deutschen Mittelstandsvorzeigeunternehmens Viessmann konsequent, der die Klimasparte an einen börsenorientierten US-Konzern verkauft hat. So schnell wie der Markt der Wärmepumpen in drei Jahren von asiatischen Billigheimern geschwemmt werden wird, kann Robert Habeck seinen Verbots-Zeigefinger gar nicht heben. Das Unternehmen musste handeln. Und natürlich werden die Mitarbeiter meckern, wenn das amerikanische Denken in Allendorf an der Eder Einzug hält…
Mitarbeiterzufriedenheit bringt auch nicht automatisch mehr Leistung. Oft sogar im Gegenteil. Das gerade in der Agilwelt als neue Blaupause gehypte Haier überzeugt nicht etwa durch zufriedene Mitarbeiter. Es wird dort hart und unternehmerisch gearbeitet. Es geht erst mal um Erfolg.
Deshalb macht mir die Haltungsdiskussion zunehmend Sorgen. Sie hat etwas Verklärtes. Die globale, sich immer schneller drehende Wirtschaft, die im Wettbewerb zu China bestehen muss, braucht fähige Arbeitskräfte. Aber auch solche, die Zufriedenheit nicht über alles stellen.
Es ist also mehr die Frage, ob eine produktive Energie herrscht, die Leistung hervorbringen kann. Man kann keine Vollkasko fürs Leben erwarten. Das lernt man manchmal aber erst nach einigen Jahren im Beruf. Dass die Weichen keineswegs nur in der Chefetage gestellt werden, wird manchem auch erst klar, wenn er in einem global verzahnten Unternehmen durchgeschüttelt wird.
Einmal saß ich mit einem Wiederkehrer am Mittagstisch, der das Offboarding besagter Firma über den Klee lobte. Er hatte in fünf Jahren “draußen“ drei neue Arbeitgeber kennenlernen dürfen. Er habe erwartet, dass es irgendwo besser wäre. Das war es nicht. Das habe ihn geerdet.
Die Arbeitswelt sei eben nicht dafür da, die Menschen glücklich zu machen. Dafür sei jeder selbst verantwortlich. Auch das ist Erfahrung, vielleicht die wichtigste überhaupt.
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Über produktive Energie habe ich im Teamworks-Blog geschrieben.
Zufriedenheit - was steckt wirklich dahinter? Der Soziologe und Organisationsberater Gerd Beiderniki hat dazu ein hilfreiches Buch verfasst: “Wenn du fragst, frag richtig”, das bei Wiley erschienen ist.
Und von mir noch ein Video über die Alphaposition in der Rangdynamik:
Inspiriert hat mich diese Woche
Eine abenteuerliche Wanderung, bei der ich das erste Mal die Wahl hatte: Entweder über den Bergkamm rüber oder den vier Mastinos ins Gehege fallen, die Schafe bewachten. Wir nahmen den Bergkamm.
Nehmen wir dieses Mal das Gegenteil von inspiriert: erschreckt. Der Beitrag “Erleuchtet oder abgezockt?” des ZDF über Abzock-Coaches sollte sich jeder ansehen. Er sagt mir auch, warum wir psychologische Kenntnisse brauchen. Denn was da passiert ist kein Coaching, sondern übelste Manipulation. Kann man sagen, dafür braucht man Dumme…. Oder: Es braucht mehr Ausbildung.
Offene Termine
Mit Emanuelle Quintarelli bin ich Keynote Speaker auf der Agile World in München. Thema “From Hierarchies to Ecosystems”. Hier findet ihr Infos. Geht auch um Haier.
TeamworksPLUS Gruppe 15 hat noch einen Platz. Wir freuen uns auch auf Anmeldungen zu Gruppe 16 Info
Ich merke, dass einige sich fragen, ob sie die Voraussetzungen für die Summer School New Organizing haben. Ihr könnte mich dazu gerne fragen ;-) Hier findet ihr Infos zur Summer School Organisationsentwicklung und zur Masterclass Nextlevelcoaching im Herbst.
Und dann nicht vergessen: Nextlevelcoaching im Herbst. Hier wollen wir uns mit aktuellen Herangehensweisen im Kulturwandel und Coaching beschäftigen. Über die ganzen fünf Tage arbeiten wir mit Spiral Dynamics. Big Five und Ich-Entwicklung beziehen wir auch ein. Ideal auch, um eigene Themen im Kontext der eigenen Organisation zu bearbeiten.
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Beitragsfoto: Andrea Piacquadio