Der folgende Text ist eines von 100 mentalen Modellen aus meinem am 13.9.2023 erschienen Buch. Ich habe ihn exklusiv für diese Kolumne angepasst und eingesprochen.
No. 54: Wenn Zusammenhänge nicht zusammenhängen
Das Ozonloch war eindeutig auf FCKW zurückzuführen. Ab 1996 wurde es weltweit verboten. Inzwischen ist das Ozonloch kleiner geworden, die schädigenden Schichten haben sich um die Hälfte reduziert. Zwischen Ursache und Wirkung besteht ein klarer Zusammenhang.
Seit einigen Jahren gibt es den umgekehrten Flynn-Effekt. Der besagt, dass die mit dem IQ-Test gemessene Intelligenz anders als in den Jahrzehnten zuvor sinkt. Dafür haben viele Forscher viele Ursachen ausgemacht, unter anderem Computerspiele. Doch ob und welcher Zusammenhang besteht – hier ist es völlig unklar.
Trennschärfe herzustellen ist schwierig
Im wissenschaftlichen Bereich ist „Ockham´s Rasiermesser“ als mentales Modell bekannt. Es stammt von einem Gelehrten aus dem Mittelalter. Es leitet dazu an, einen Untersuchungsgegenstand trennscharf herauszuschälen. Somit gilt es auch, alle anderen Erklärungen des Phänomens zu entfernen, zack und weg. Bis eben nur noch der Kern, das Wesentliche übrigbleibt. Das muss noch lange nicht die Wahrheit sein, aber es ist die wahrscheinlichste, weil einfachste Theorie. Sie liegt da, wo es die wenigsten Variablen gibt.
Anwendbar ist dies allerdings nur da, wo es einen Ursache-Wirkungszusammenhang gibt. Und der findet sich immer seltener.
Denn die Welt hat sich seit Ockham doch ziemlich verändert. Bedenken sollten wir bei der Übernahme von mittelalterlichen Weisheiten auch, dass damals Dinge als wahr gegolten haben, die heute widerlegt sind. Dazu gehört der Aderlass als allgemeingültige medizinische Heilmethode und der Glaube, dass die Erde eine Scheibe sei.
Keep it simple and stupid? Nicht immer schlau
Von Ockhams Messer gibt es auch eine Laienvariante - ein mentales Modell namens KISS. Das steht für “Keep it simple and stupid”. Auch dieses Denkmodell gehört in die Mottenkiste, denn es führt zu schnell und zu leicht zu allzu groben Vereinfachungen. Der Gedanke „es muss doch eine einfache Erklärung geben“ ist auch nicht hilfreich. Viel hilfreicher ist es oft, zu erkennen, dass es keine einfache Erklärung gibt.
Das ist natürlich sehr schwer auszuhalten für die, die danach suchen. Und Hölle oder Himmel für Wissenschaftlerinnen - je nach Komplexitätsneigung. Denn diese sind ja angehalten, etwas als unwahr zu belegen. Ihr höchstes Ziel ist seit Karl Popper Falsifizierbarkeit, also nachzuweisen, dass etwas nicht widerlegt werden. Zumindest derzeit (noch) nicht.
Tote Zusammenhänge eignen sich super für die Medien
Allzuoft finden wir tote Zusammenhänge, die auch medial großartig aufbereitet werden. Tote Zusammenhänge sind auch endgültige Zusammenhänge. Niemand stellt sie mehr in Frage. Da werden dann Ursachen und Wirkungen verbunden, die nichts miteinander zu tun haben. So denkt man ein bestimmter Führungsstil wirke auf den Erfolg. Oder mutmaßt, eine Methode - etwa eine agile - sei ursächlich dafür, dass etwas im Team funktioniert (oder nicht). Dabei wird das Messer lustig an alle möglichen Variablen angelegt, auf dass nur eine übrig bleibe.
Ein tragfähigeres Mentalmodell ist „mach es einfach, aber nicht primitiv“. Das bedeutet: Die komplexen Zusammenhänge so weit wie möglich zu durchdringen, um sie soweit wie möglich zu vereinfachen. Viele beginnen aber schon bei der Vereinfachung. Und dort führt der direkte Weg in die Trivialisierung.
Das neue mentale Modell
Bevor man etwas einfach machen kann, sollte man die Komplexität erhöhen und nicht etwa reduzieren. Diesen Schritt lassen allzu viele aus. Er ist anstrengend - nur möglich im “System 2” nach Daniel Kahnemann. Er erfordert Zusammenarbeit und, noch viel herausfordernder, den Umgang mit unterschiedlichen Positionen zu ein und derselben Sache. Ja, mitunter sogar zu einem Fakten-Fächer. Denn nicht immer lässt sich die eine Wahrheit wirklich finden. “Hört auf die Wissenschaft” heißt deshalb oft auch: Hört auf eine Vielzahl von Positionen zu einem Sachverhalt, der sich irgendwie nicht immer ganz eindeutig verhält, weil es zu viele Variablen gibt.
Denn, was viele nicht verstehen, ist ganz einfach: Wir können bestenfalls die Vergangenheit auswerten. In die Zukunft schauen können wir nicht. Und da diese ungewiss ist, bleiben immer sehr viele, vielleicht unendliche Möglichkeiten. An die meisten hat jetzt noch niemand gedacht.
Weiter: Lesen, Sehen & Hören
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Tote Zusammenhänge findet ihr reichlich in der Unstatistik des Monats u.a. gepflegt von Prof. Gert Gigerenzer
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