Was uns beherrscht
Nr. 89: Über kollektive Dynamik, das kollektive Gedächtnis und Polarisierung
Der Blutdruck steigt, die Aufmerksamkeit ist hoch. Es braucht nur ein Wort und jeder hat ein Bild ohne im Bild zu sein. Im Fall von Biden und Trump ist dieses durch, sagen wir mal, unvorteilhafte Gesichtsausdrücke geprägt. Im Fall einer ganz normalen Unternehmung kann das alles sein: Der Name eines Menschen, aber auch der einer Straße.
Damals…war das schlimm. Oder: Die Kraft der Mikrogeschichte.
Es haben sich „damals“ Geschichten freigesetzt, genaugenommen Mikrogeschichten.
„Die Peterstraße“ – wahlweise zu ersetzen durch irgendeine andere Straße, repräsentiert ein prägnantes Ereignis und auch eine ebensolche Person. Was damals passiert ist? Ist es ins kollektive Gedächtnis gesickert, wissen nur die „Alten“ noch davon, wenn überhaupt noch jemand da ist.
Damals wurde ein Betriebsteil geschlossen, es wurde eine Person entmachtet, ein ganzes Team oder eine bestimmte Gruppe entlassen. Da wurde der gesamte Service ins Ausland verlagert oder die Marktforschung geschlossen… In besondere Wallungen bringt typischerweise das, was irgendwie alle betrifft, aber eben nicht direkt. Deshalb kann man nicht von einem Trauma sprechen; es ist mehr eine Störung von Sicherheitsempfinden und Zugehörigkeit.
„Was ist denn genau passiert in der Peterstraße?“ frage ich.
„Keine Ahnung, es war schlimm…. Viele glauben seitdem nichts mehr, was die Geschäftsführung sagt“, meinen die, die mir gerade ihr Trauma offenbart haben.
Ich erinnere mich, wie mich einst ein Mitarbeiter warnte, bei jener Firma anzufangen, die ich damals favorisierte. Es hatte mit Umwelt zu tun, mein Leben wäre vielleicht anders verlaufen. Aber nach dem vertraulichen Gespräch im Flur unterzeichnete ich woanders. Was mir der Mitarbeiter genau gesagt hat? Ich hätte es auch Wochen danach nicht konkret sagen können. Es übermittelte ein Gefühl.
Dieses transportiert eine Angst, die meist sehr diffus ist:
Was, wenn die AFD die Regierung übernimmt?
Ist mein Job sicher, wenn es die anderen nicht sind?
Könnte ES mich selbst betreffen? (wobei ES im Grunde jede unbestimmte, kindliche Angst ist)
Das kollektive Gedächtnis speichert wenig Details.
Einmal wurde ich als Speakerin angefragt. Die junge Personalerin erzählte mir im Vertrauen, da sei mal jemand ausgebuht worden, die Bereichsleiter seien schwierig. Heute würde ich sagen: Sie übermittelte mir ihr eigenes Gefühl - und ich ließ mich anstecken. Ich bat also um ein Gespräch.
Die Kraft des unsichtbaren Kollektivs
Das brachte zutage, dass die Geschichte uralt war und auch nicht stimmte. Eigentlich war niemand dabei gewesen, um irgendetwas Konkretes zu sagen. Dramatisierung ist mitunter eben auch Teil des kollektiven Gedächtnisses. Was man landläufig „stille Post“ nennt, entfaltet sich im Kollektiv frei und ungebremst.
Kollektive sind soziale Gebilde, die nicht an einem Ort sind. Wir gehören ihnen an. Das klarste Ordnungsprinzip ist die Staatsangehörigkeit oder der Arbeitsvertrag. Wobei… die gefühlten Zugehörigkeiten noch stärker sind. Wir gehören uns eben nicht nur dem einen zugehörig - meist wissen wir eher, wozu wir nicht gehören (wollen). Die Grenze zur sozialen Gebilde der Gruppe ist wissenschaftlich soviel ich weiß nie gezogen worden. Aus meiner Sicht ist sie da, wo Menschen vor Ort sind. Da ist Gruppe.
Kollektive aber sind groß und unförmig. Sie bestehen aus Gedanken, Gefühlen Ordnungsstrukturen und vor allem: Repräsentanten. Repräsentanten, die für etwas stehen oder in der Vergangenheit standen.
Manche bieten eine rechtliche Mitgliedschaft an, wie die Organisation den Arbeitsvertag. Andere sind gefühlte Zugehörigkeiten, die erst durch Abgrenzung entstehen: Das Jo-Biden-Lager und das Trump-Lager. Auch diesen Mechanismus gibt es in Unternehmen: Oft verbindet er sich mit dem „Ereignis“: Seit damals sind sich die beiden spinnefeind.
Gut und böse werden aufgefüllt mit Mikrogeschichten
Die darin liegende Polarität spaltet das hier und jetzt in Gut und Böse, begründet diese aber mit und in den erwähnten Mikrogeschichten. Noch ist das TV-Duell nicht historisch, aber es hat Zeug dazu.
Die Polarität entsteht nicht physisch, sondern psychisch. Und sie ist ständig in Bewegung. Ein „einordnendes“ Ereignis wie die, man muss es leider sagen medial getunten „Fratzen“ der beiden alten Männer, kann sie verschieben. Sie verkleinern und vergrößern sich und teilen sich immer wieder neu in „dafür“ oder „dagegen“.
Aufgrund der Wahlen sollen ganze Belegschaften in den USA gegeneinander ätzen. Dass „AFD“ hier auch in die Unternehmen sickert, habe ich ein paar Mal hautnah erlebt. Es stellt Führungskräfte vor Herausforderungen und die Frage: Darf und soll ich Position beziehen? Dass eine Führungskraft in Thüringen auch Mitarbeitende hat, die AFD wählen, liegt schon in der Statistik begründet. Aber wie damit umgehen?
In den Dynamiken wird die Irrationalität menschlichen Verhaltens sichtbar:
Die Negativitätsverzerrung sorgt dafür, dass wir uns das Böse, Schlechte, gefährliche, Unberechenbare merken.
Die Angst vor Unsicherheit sucht nach maximal einfachen Erklärungen.
Gesteuert vom Wunsch nach Zugehörigkeit, folgen wir denen, die uns emotional festigen.
Wir sehen eine Hülle, einen Vertreter oder Repräsentanten der „anderen“ Position. Sie ist entmenschlicht.
Eines der einfachsten und zugleich klügsten Modelle zum tieferen Verständnis der sich daraus entwickelnden Dynamiken bietet die Rangdynamik von Raoul Schindler. Er hat diese nicht zum Verständnis von Kollektiven geschaffen, das sei vorausgeschickt. Aus meiner Sicht helfen seine einfachen Ordnungsprinzipien aber auch hier:
Das Alpha ist Held, Spieler, Handelnder, Akteur und eben Repräsentant für den Pol, der Bewegung auslöst.
Das Omega ist Antiheld, Gegenspieler, auch Akteur und Repräsentant für den anderen Pol. Auch dieser löst Bewegung aus, nur in eine andere Richtung. Es verhindert die Möglichkeit, dass sich je alle einig werden.
Die Gammas sind die Folgenden, die Bewohner des Pols und der Pole. Sie entscheiden sich, wenn sie es denn können, für den, der ihre Ängste bindet.
Das Beta ist Mittler, Median, Vermittler, die neutrale Position, das Dazwischen. Es kann einen Ausgleich bringen, wenn es denn da ist oder da sein darf. In Gruppen sind es die Moderatoren, Facilatatoren, neutralen Experten. In Kollektiven sind es vielleicht die, die verbindend argumentieren.
G ist all das, auf das die Alphakraft in Bewegung setzt: Gegner, Gegenüber, eine mit Inhalt gefüllte Position. Hier: das Gewinnen der Wahl.
Während wir in kleinen Gruppen vor Ort, Alpha und Omega direkt erspüren, sind die Positionen kollektiv betrachtet abhängig von der eigenen: Ist jetzt Trump das Alpha oder doch Biden? Das Kollektiv teilt sich ebenso wie die Gruppe immer wieder und entwickelt eigene Dynamiken.
Im Demokraten-Lager fragt man sich gerade, wer eine angstbindende Kraft freisetzen könnte und sieht sich vor allem Dilemma. Denn hier kommen die Geschichten ins Spiel. Die von Präsidenten-Stellvertreterin Kamala Harris war bis jetzt keine glorreiche.
Macht entsteht eben dadurch, dass sie sich immer weiter auffüllt. Es ist nicht der Mensch, sondern das Gefühl, das er bei anderen auslöst. Svenja Hofert
Da ist eine Hülle, die aufgeladen ist und von Personen verkörpert wird. Die Hülle des Trump ist augenblicklich für viele Amerikaner offensichtlich weniger beängstigend, weil sein Wahnsinn Programm hat. Wahr oder nicht – man traut ihm alles und eben nicht Nichts zu. Im Zweifel drückt er auf Knöpfe. Das „G“ ist Gewinnen. Ein Beta in diesem Zusammenspiel sehe ich gerade nicht. Aber ich bin sicher, es gibt Betas im Haus von Biden, die die ganze Zeit schon die eigentliche Arbeit machen.
„Die für eine Demokratie notwendige Verständigung zwischen verschiedenen Positionen ist in Krisen oft nicht mehr möglich.“ Aus dem Forschungsbericht „Polarisierung in Krisen überwinden“
Kollektivdynamiken unterscheiden sich von Gruppendynamiken darin, dass sie noch einfacher sind und die Gruppendynamiken enthalten - ohne sie widerzuspiegeln. Alpha ist „In“ und Omega „Out“. Da lang, hier lang: Ich folge der Emotion.
Die Psychoanalyse kennt seit Freud das Konzept des „Agierens“. Das bedeutet, dass wir Handeln, auch im Kopf - und uns dadurch ablenken lassen von unseren eigenen Themen. Das Nicht-Nachdenken ist auch das Nicht-Nachfühlen. Die Lösung ist nicht nur in Therapie und Coaching von Individuen die Bewegung festgefahrener Gedanken und Gefühle. Auch in Gruppen und auf der Ebene des Kollektivs geht es immer darum, Festes aus seiner rigiden Umklammerung zu lösen. Das kann weh tun, und es ist anstrengend.
Was können wir tun?
„Was können wir tun?“ fragst du dich vielleicht jetzt. Diese Frage bewegt oft auch Führungskräfte, wenn Geschichten um Ereignisse schon ziemlich viel Boden verbrannt haben. Dieser Effekt ist leicht erkennbar an Fluktuation und Krankheit. Und schwerer merkbar an diffuser Unsicherheit, die Leistung über einen langen Zeitraum eindämmen kann, die Gerüchteküche beherrscht und unsichtbare Normen diktiert (“sprich bloß nicht darüber”).
Dampf ablassen
Ich meine: Raus aus dem abstrakten und sogar algorithmisch steuerbaren Kollektiv, rein in die direkte Nähe der Gruppe! Es geht um Verdauungsräume, in denen Geschichten und damit Gedanken und Gefühle verarbeitet werden können, was manchmal einfach nur heißt: Dampf ablassen. Es geht aber auch um eine Chance zur Veränderung und Neubewertung. Die Europameisterschaft ist insofern eine Chance, denn es geht wie an der Börse um Gefühle.
Ansteckung durch Neugier
Menschen sind keineswegs so dumme Follower wie es oft scheint. Wenn sie sich und andere verstehen, können sie aus der eigenen Gedanken- und Gefühlsschleife aussteigen. Wenn sie Raum bekommen und ernst genommen werden, dann können sie sich äußerlich und innerlich öffnen. Der Ansteckungseffekt durch Angst, den gibt es auch in die andere Richtung: Ansteckung mit Neugier und Motivation.
Reflektieren - aber echt
Es gibt dabei zwei Ebenen, die stimmen müssen: Die der Worte und die der Handlung. Und auch hier gilt es, den Begriff der Handlung im psychologischen Sinn zu verstehen. Da beinhaltet er auch das, was zwischen den Zeilen passiert. Handlung ist reflektiert. Und hier ist wird mir immer wieder bewusst, dass „Reflektieren“ oft als „Aussprechen“ verstanden wird. Es ist aber mehr: auch das Nachfühlen, nachklingen, einsickern lassen.
Sensemaking
Auch „Sensemaking“ kann helfen, im Unternehmen wie im gesellschaftlichen Kontext. Es geht zurück auf Cynefin-Erfinder Dave Snowden. Als Prozess in der Gruppe ermöglich es, Sinneseindrücke im Strom des Erlebens, sinnvoll zu ordnen. Das öffnet und erweitert Perspektiven. Es kommt Weite in die Gedanken. Und dadurch werden sie frei...
Und nun: einen schönen Sonntag!
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Polarisierung in Krisen überwinden, Forschungsbericht des Projekts von 2022, hier
Kollektive Dynamiken – Einfluss von Algortihmen, hier
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Auf meinem YouTube-Kanal findet ihr gleich mehrere Videos über kollektive Dynamiken und die Rangdynamik, hier
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