No. 114. Jetzt wird´s anders.
2025 - Prognosen, Vibe Shifts und korrupte Trends
Prognostiker sollten die Zukunft besser voraussagen können als andere. Schließlich sind sie Experten ihres Fachs. Aber genau das ist das Problem: Je mehr man über eine bestimmte Sache weiß, desto verengter wird der Tunnelblick.
Finanzexperten lagen 2024 reihenweise daneben. Fachwissen allein scheint also nicht auszureichen. Es spielt auch eine Rolle, was die Menschen hören wollen. Arbeitsmarktexperten haben schon vor zwölf Jahren darauf hingewiesen, dass der Strukturwandel den Industriestandort gefährden würde. Doch das wollte damals niemand hören – es ging uns zu gut. Keine Weichen gestellt.
Prognosen hängen von Vibes ab.
Vibes sind Stimmungen, die Dinge aufnehmen oder ausblenden. Sie fallen auf fruchtbaren Boden. Ohne diesen sind es keine Vibes, sondern nur Nachrichten, die im Nebel der Nichtbeachtung verpuffen. Betrifft mich nicht.
Zum Orakel geht man schließlich nur, wenn es einen persönlich und konkret betrifft.
Abstrakte Gefahren sind keine gefühlten Gefahren.
Vibes unterliegen einem Wandel. Sobald sich die Stimmungslage ändert, bestimmen Gegenstimmen immer lauter den Ton.
Der Begriff „Vibe Shift“ beschreibt eine kollektive, spürbare Veränderung von Trends, Einstellungen und emotionalen Schwingungen innerhalb einer Gesellschaft. Es handelt sich um subtile, aber grundlegende Verschiebungen in der Atmosphäre eines historischen Zeitabschnitts. Ökonomische und gesellschaftliche Entwicklungen bedingen sich dabei gegenseitig, so lange bis sie das unmittelbare Umfeld erreicht haben:
Wenn der erste im Freundeskreis sein Haus mit Bitcoin-Millionen baut.
Wenn der erste trotz hervorragender Qualifikationen seinen Job verliert.
Wenn immer mehr Menschen im eigenen Umfeld ins Ausland ziehen.
Wenn jetzt auch beim Kollegen das Home Office gekürzt wird.
Oder das Schnitzel 25 EUR kostet - nicht das Wiener.
41 % aller Studierenden können sich inzwischen sehr gut vorstellen, beruflich auszuwandern, meldet eine Studie von Ernst & Young – der Wert hat sich binnen zwei Jahren verdoppelt. Traumarbeitgeber Automobilindustrie? Ein Alptraum kündigt sich an. Und plötzlich denkt man: „Wenn die anderen das auch so wahrnehmen, dann ist es ernst.“
Im Gegensatz zum „Mindshift“, der eine bewusste, kognitive Veränderung der Denkweise beschreibt, ist der Vibe Shift diffus. Während der Mindshift Reflexion und Einsicht erfordert, vollzieht sich der Vibe Shift entlang der kollektiven Stimmungslage.
Gute Prognostiker sind keine klassischen Experten. Sie sind Meister im Erspüren von Vibe Shifts. Sie erkennen die verschiedenen Stränge der Gegenwart. Genau deshalb liegen Finanzexperten so oft daneben: Sie sind so beschäftigt mit ihrem Spezialwissen, dass sie die Veränderungen der äußeren Faktoren und Variablen nur selektiv auswählend und nicht allgemein interessiert wahrnehmen.
Die wahre Fähigkeit eines Prognostikers ist nicht die Vorhersage der Zukunft, sondern die präzise Wahrnehmung der Gegenwart. Und wer weniger durch die Scheuklappen bestimmter Denkschulen gebunden ist, dem fällt das leichter.
„Entweder macht man eine Weiterzeichnung vorhandener Trends oder man fokussiert sich auf bestimmte Entitäten“, schreibt der Zukunftsforscher Matthias Horx in einem Interview mit der Welt am Sonntag.
Im Grunde müsste man ihn Gegenwartsforscher nennen. Das Gespür für Vibe Shifts ergibt sich aus Neugier und der Suche nach transdisziplinären Verbindungslinien. Förderlich ist, wenn man nirgendwo Aktien hat - im übertragenen Sinn.
Gegenwartsforscher wissen auch, wie man Botschaften verpackt: „Alles ist Technologie“ oder „Agilität ist tot/nicht tot“. Über solche Clickbait-Aussagen regen sich vor allem diejenigen auf, die diese Mechanismen noch als fragwürdig wahrnehmen. Mein meistgelesener LinkedIn-Beitrag 2024 lautete: „Hört auf mit der Duz-Kultur.“ Warum die vielen Klicks? Ganz einfach: Weil es einen Vibe Shift gibt. Weil die Menschen einen Umbruch spüren. Sie brauchen Symbole wie Turnshuhe, Du und Tischkicker.
Trends sind letztlich eine Art Ideenvertrieb.
„Trends sind korrupt“, formuliert clickbaitend Horx, dessen ganze Familie mit Trends Geld verdient. Vielleicht ist genau das ein neuer Vibe: ehrlich sagen, was Sache ist. Es hat wohl seinen Grund, warum mein Vortrag „Stop making trends“ zuletzt so gefragt war. Einer muss es sagen – und Kassandra darf es nicht.
Kassandra war jene Gestalt der griechischen Mythologie, die von Apollon die Gabe erhielt, die Zukunft zu sehen. Doch als sie seine Liebe ablehnte, verfluchte er sie: Ihre Prophezeiungen sollten zwar wahr sein, doch niemand würde ihr glauben. Kassandras gibt es in jedem Unternehmen – garantiert auch bei VW.
Aber ja, Kassandras sind oft lästig. Der Arzt Ignaz Semmelweis entdeckte Mitte des 19. Jahrhunderts, dass die Sterblichkeitsrate bei Wöchnerinnen drastisch sank, wenn Ärzte ihre Hände desinfizierten. Seine Kollegen jedoch ignorierten ihn – und er wurde zum Außenseiter, zur Kassandra.
Kassandrarufe verhallen oft ungehört, doch Vibes setzen sich durch. Ich habe 5 ausgewählt.
1. Der Arbeitsmarkt: Vom Bewerbermarkt zum Arbeitgebermarkt
Der Bewerbermarkt war ein Himmelreich für alle, die von einer 4-Stunden-Woche, Homeoffice und Hunden am Arbeitsplatz träumten. Dieses Himmelreich schrumpft jedoch, und zwar international. Zwar sind immer noch viele Menschen berufstätig, doch die durchschnittliche Zahl der wöchentlichen Arbeitsstunden sinkt weiter. Es wird viele vom Stellenabbau Betroffene geben. BA-Chefin Andrea Nahles warnt schon länger davor – sie ist an der Quelle und nicht für Schönfärberei bekannt. Personaler berichten mir, dass die Lage noch schlechter sei, als die Zahlen vermuten lassen. Beispielsweise wird Kurzarbeit mittlerweile auf zwei Jahre gestreckt, was einiges abfedert.
Wohin shiften wir?
Eindeutig in eine Spaltung. Betroffen sind vor allem Industriearbeitsplätze, insbesondere die Vertreter der alten Arbeitswelt mit üppigen Gehältern und langer Betriebszugehörigkeit. Zugleich wird es weiterhin Fachkräftemangel geben. Vielleicht treibt das endlich auch die Arztpraxen in die Digitalisierung – das bleibt abzuwarten. Klar ist: Jeder Jobverlust bietet die Chance, sich neu zu positionieren, möglicherweise auch unternehmerisch. Denn Unternehmertum profitiert oft von schlechten Wirtschaftslagen.
2. New Work: Wer es sich leisten kann…
Die Idealisierung von Arbeit neigt sich dem Ende zu. Auch wir selbst haben an dieser Idealisierung mitgewirkt. Jeder behauptet auf Nachfrage, dass Arbeit für ihn sinnstiftend ist. Doch in den tatsächlichen Entscheidungen spiegelt sich oft etwas anderes wider: Es geht ums Geld. Beides zusammen – Sinn und finanziellen Wohlstand – ist selten. Es wäre an der Zeit, das offen anzusprechen. Die Sinnfrage selbst steht zur Debatte, wie es der Berater Hans Rusinek formuliert.
Wohin shiften wir?
In Richtung eines Rückbaus. Konservative Kräfte erobern Territorium zurück, wie die Homeoffice-Debatte zeigt. Gleichzeitig gibt es Widerstand: Was man einmal hatte, gibt man nicht so leicht auf. Fortschritt kann nur durch maximale Kontrolle beschnitten werden – das gelingt dort, wo Menschen Angst um ihre Arbeitsplätze haben. Wo diese Angst nicht existiert, bleibt das Terrain unberührt. Und dann gibt es immer noch die Option, ins Ausland zu gehen.
3. Karriere: Raus aus den Looser-Branchen
Die Shifts vollziehen sich langsam, aber sicher. In den Arbeitgeberrankings dominieren zwar immer noch deutsche Automobilmarken, doch andere Indikatoren zeigen einen Wandel. So erwägt mittlerweile 41 % aller Studierenden, ihre Karriere im Ausland zu beginnen, oder planen dies fest, wie eine aktuelle E&Y-Studie zeigt. Das betrifft besonders Ingenieure und Informatiker.
Wohin shiften wir?
Das hängt stark von den politischen Weichenstellungen ab. Gelingt es der Regierung nicht, rechtzeitig zu handeln, könnte die übernächste Regierung Entscheidungen treffen müssen, die niemand will. Nationalität wird zunehmend flexibler; Staaten müssen künftig aktiv um Talente werben.
4. Führung: Keine Zombies mehr
Die Studie „Zombie Leadership“ brachte es auf den Punkt: Es wird viel Unsinn über Führung verbreitet. Wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse zeigen, dass es keinen generell überlegenen Führungsstil gibt. Vielmehr entscheidet der Kontext. Doch jahrelang wurde suggeriert, man könne Führungskräften Verhalten wie Affen im Zoo antrainieren.
Wohin shiften wir?
Hin zu einer Refokussierung. Besonders in Krisenzeiten braucht es Stabilität. Führungskräfte müssen persönliche Reife entwickeln, um Widersprüche und Spannungen produktiv zu nutzen. Das ist essenziell, wenn es um die Umbruchphasen in Unternehmen geht.
Vormerken in Sachen Führung:
Am 12.1.25 kommt zur Führung die Erstveröffentlichung meines Podcasts mit
Am 26.1.25 folgt die wissenschaftliche Perspektive mit Prof. Dr. Rüdiger Hossiep
5. Die Wirtschaft: Hin zu radikalen Reformen
Der Vibe tendiert klar in Richtung mehr Marktliberalismus. In Europa gibt es jedoch noch erhebliche Widerstände. Ein Blick nach Argentinien zeigt, dass radikale Reformen durchaus Erfolg haben können: Hyperinflation wurde dort auf 2,7 % reduziert, und die Wirtschaft stabilisiert sich. Doch die langfristigen Folgen solcher Reformen bleiben abzuwarten.
Wohin shiften wir?
Radikale Reformen haben unterschiedliche Zeithorizonte. Ihre Auswirkungen werden oft erst aus der historischen Perspektive klar. Sicher ist: Der wirtschaftliche Fokus verschiebt sich zunehmend aus Europa heraus – Singapur boomt, während Europa stagniert.
Wandel braucht Weiterdenken
Woran erkennt man einen Wandel? Am Widerstand. Überall dort, wo es viel Abwehr gibt, lauern die größten Ängste – und damit die Chancen für Veränderung.
Es braucht eine Krise des bestehenden Paradigmas, um Platz für ein neues zu schaffen. Dieses ist selten eine glatte Gegenreaktion, sondern eher eine Weiterentwicklung. Dafür braucht es den Mut, die eigene Perspektive zu hinterfragen und weiter zu denken.
In diesem Sinne: Einen guten Start in die Zukunft! Aber mit welcher Strategie? Dazu erhaltet ihr ein Weiterdenken Extra am Mittwoch 8.1. Schon abonniert?
Weiteres zum Weiterhören & lesen
Welche Psycho-Podcasts lohnen sich? Wirtschaftspsychologie aktuell empfiehlt an erster Stellen meinen Podcast Weiterdenken mit drei weiteren Hörtipps für Psychofreaks Wirtschaftspsychologie aktuell.
Alles ist ein Spiel, wirklich. Spiel mit! Christian Rieck: Anleitung zur Selbstüberlistung (3. Auflage 2024). Rieck schafft es, einem typischen Psycho-Thema mit Spieltheorie noch einige neue Blickwinkel hinzuzufügen.
Was, wenn mein Team sich nicht entwickeln will? (Carl Auer 2024) Michael Eggebrecht hat ein Buch verfasst, das für Einsteigerinnen sehr hilfreich ist. Mir fehlt eine Team-Definition und das Thema Führung, muss aber ja auch nicht in jedem Buch vorkommen. Dazu in eigener Sache von mir und Thorsten Visbal (2024, 2. Auflage): Teams und Teamentwicklung
Und hier noch mal mein letzter Podcast mit Wolf Lotter als Reimender (kam extrem gut an):
Du sprichst mir aus der Seele. Ich selbst habe Wirtschaftspsychologie studiert und meine Bachelor Arbeit ging um die Anwedung von „Spiral Dynamics“. Ein Entwicklungsmodell von Bewusstsein. Wie man dieses Modell sinnvoll in Unternehmen verwenden kann, um Verständnis zwischen den Menschen zu schaffen. Svenja Hovert … warte mal … kann das sein , dass ich dich zitiert habe? O.o
Hast du Bücher in dem Bereich?