Ich bin nicht mehr meiner Meinung
No. 55 Die Kunst, seinen Standpunkt zu verändern ohne beliebig zu sein
No. 55 Die Kunst, seinen Standpunkt zu verändern ohne beliebig zu sein
Manchmal erkenne ich meine eigenen Texte nicht mehr. „Was, das habe ich geschrieben?“, sage oder denke ich dann. Manchmal finde ich sie immer noch gut. Manchmal sind sie mir peinlich. Und dann gibt es die Fälle, in denen würde ich es heute schlichtweg anders sehen. Die Dinge haben sich einfach anders entwickelt. Es gibt neue Erkenntnisse. Ich wüsste heute mehr, könnte besser einordnen.
Der mittlere Kenntnisstand fühlt sich für mich für die Meinungsbildung am angenehmsten an. Svenja Hofert
Da traut man sich noch eine Einschätzung zu, steckt aber noch nicht zu tief drin. Tauche ich tiefer ein, wird mir dagegen immer bewusster, dass Tiefseetauchen etwas anderes ist als Schnorcheln.
Und damit meine ich keineswegs, dass Tiefseetauchen im Wasser des Spezialwissens dem Schnorcheln überlegen ist: Es ist nur ein anderer Sport – man kommt auch zu anderen Ergebnissen. Oder eben gar nicht weiter. Vielfach merkt man an der Unfähigkeit zu Lösungen zu kommen, dass es um Komplexität geht - und nicht mehr nur Kompliziertheit. Das ist überall da der Fall, wo die Effekte des Handelns völlig unabsehbar sind. Die Daten der Vergangenheit nützen nichts - die Erfahrung ist zu neu.
Je komplexer etwas ist, desto eher entstehen Effekte der Effekte. So heißt eines der 100 mentalen Modelle in meinem Buch “Mach dich frei”, das am 13.9.23 erscheint (hier bei Amazon). Mir geht es im Buch darum, Modelle zu vermitteln, die Gedanken produzieren - und nicht etwa konkrete Inhalte.
“Effekte der Effekte” besagt, dass Eingriffe unter Komplexität immer positive und negative Wirkungen erzeugen. Idealerweise haben Entscheider die positiven und negativen beabsichtigten Effekte zugleich im Blick. Oft hapert es schon hier, wie ich bei einigen Kulturwandel-Initiativen beobachten konnte. Da waren stets nur positive Effekte im Blick. Die meisten verkennen auch die Dimension der Zeit, die einen zunächst positiven in einen sodann negativen Effekt verwandeln kann.
Häufig sind sind die negativen unbeabsichtigten Effekte früher spürbar und die positiven unbeabsichtigten noch schwach ausgeprägt. Bleiben wir beim Kulturwandel: Der direkte negative Effekt einer Initiative für mehr Frauen in Führung ist Widerstand bei Männern, die nun Sorge um ihre Karriere haben. Der unbeabsichtigte negative Effekt könnte ein erhöhter Kommunikationsaufwand sein, der unbeabsichtigte positive vielleicht ein Leistungsschub. Rein spekulativ und nur so als Beispiel. Neutrale Effekte haben keine Auswirkung auf die gewünschte Veränderung - es sei denn sie kumulieren und werden dann negativ: “es bringt nichts”.
Nehmen wir den Industriestrompreis als weiteres Beispiel. Er würde die Industrie vielleicht zu einem Teil hierbehalten, wenn es nicht schon zu spät ist. Aber was ist mit den Handwerksbäckereien? Neulich habe ich kurz bei “Hart aber fair” reingeschaut und das flammende Plädoyer der Bäckermeisterin Caterina Kenne gesehen. Sie macht da einen Punkt.
Bäckereien würden Stand heute nicht subventioniert und von den Großbäckereien wahrscheinlich in die Ecke gedrängt, wenn sich da nicht noch eine Allianz auftut, und sei es in Bevölkerung.
Meine Meinung: Ich will das Bäckerbrötchen behalten
Ich schreibe dies aus Spanien, einem Land mit unsäglich schlechter Brotkultur. Persönlich fände ich das Sterben von Handwerksbäckereien schade. Und auch ungerecht. Aber ich weiß natürlich auch, dass eine Entscheidung die alles berücksichtigt, ein fauler Kompromiss mit oft noch viel mehr negativen Wirkungen ist. Und da Frage am Ende ist ja: Worum geht´s? Sicher nicht um meine Präferenz.
Bis hierhin kann man das noch sorgfältig durchdenken, abwägen und sich überlegen, wie man das ganze „bändigen“ könnte, etwa mit einem Zielstrompreis. Der müsse so gestaltet sein, dass alle wirtschaftlichen Ambitionen auf eine definierte Senkung zulaufen. Das schlug Dr. Daniel Stelter letzte Woche in seinem Podcast “Beyond the obvious” vor.
Meinungsbildung für Komplexität muss anders aussehen
Über diese Dinge nachdenken bevor man folgenschwere Entscheidungen trifft, ist eine Kombination aus Schnorcheln und Tiefseetauchen – und eine besondere Form der Meinungsbildung, die der Komplexität angemessener ist. Wir suchen immer noch nach der einen Meinung anstatt erstmal die Komplexität durch den Bildungsprozess von Meinung zu erhöhen. Mein Modell “Effekte der Effekte” ist also ein Komplexitätsbooster.
An Meinungsbildung sollten viele beteiligt sein. Setzen wir nur auf die eine Einschätzung eines Top-Experten besteht die Gefahr, dass dessen Welt in einem riesigen Vergrößerungsglas in unnatürlichen Maßstab auf alles andere übertragen wird. Es hilft auch bei der Entscheidung sich (noch) keine Meinung zu bilden, wenn der Zweck erfüllt wird, nämlich weitere Gedanken zu erzeugen.
Es geht auch um Vertrauen.
Je komplizierter es wird, desto mehr sind wir auf Leute angewiesen, denen wir vertrauen wollen. Meinen persönlichen Vertrauensvorschuss haben Experten, die ihren Standpunkt verändern können und wollen. Die auch zugeben, dass sie „damals“ etwas anderes vertreten haben. Die sich offen irren und erkenntlich bemüht sind, Dinge zu erforschen.
Je komplexer die Dinge werden, desto mehr braucht man Schnorchler. Die können noch genug verstehen, um die richtigen Fragen zu stellen und Widersprüche aufzudecken. Sie stecken aber auch noch nicht so tief drin, dass die eigene Einschätzung im Vergrößerungsglas festhängt.
Meinungsbildung unter Komplexität
Ich halte Meinungsbildung unter Komplexität für eine der wichtigsten Veränderungskompetenzen. Und damit meine ich nicht, die einmal vorfertigte Konfektionsmeinung, sondern die Meinung, die dem Begriff gerecht wird. Es geht um “sich eine Meinung bilden” im Sinne von diese fluide entwickeln.
Dafür will ich kurz eine Unterscheidung der Sozialpsychologie heranziehen. Hier gilt Meinung als kurzlebiges öffentliches Urteil über augenblickliche Themen. Sie grenzt sich ab von Überzeugung, über die ich ja auch schon in Kolumne No. 45 “Die irre Kraft rationaler Überzeugungen” geschrieben habe.
Die Überzeugung beinhaltet eine zeitlich stabilere, situationsunabhängige Werte-Orientierung. Heißt umgekehrt: Meinung sollte mit Werten erstmal nichts zu tun haben. Man hat ja auch eine Meinung, aber ist der Überzeugung.
Das gedanklich zu trennen, kann eine wichtige Übung sein, etwa für Menschen in Führungsrollen.
Beispiel:
Meinung: Ich bin der Meinung, dass Peter sich als Führungskraft eignet (am besten begründet).
Überzeugung: Aus meiner Perspektive sollten Führungskräfte zuerst Menschen im Blick haben müssen (Werte).
Meinung hat viele Facetten: Da ist die fundierte Meinung, die Expertenmeinung oder auch die Meinung aufgrund begründeter Annahmen. Eine freie Meinungsbildung ist durch die die Informationsflut und Bubble-Bildung ein zunehmender Kraftakt. Vor allem aber weil Überzeugungen möglichst objektive Meinungsbildung zunichte machen.
Doch je mehr wir in den Dunstkreis der eigenen Bubble tauchen, desto fester ziehen sich die inneren Meinungsschrauben. Je öfter wir etwas sehen, hören, darin bestätigt werden, desto eher glauben wir es. Es wirken Verzerrungen wie der attentional bias und der confirmation bias – aber auch Gruppen-Mechanismen. Die eigene In-Gruppe vertritt andere Meinungen als die Out-Gruppe.
Die eigene Meinung wird von der Überzeugung der Gruppe gebändigt. Svenja Hofert
Wie Überzeugungen so werden auch Meinungen weniger im Kopf als vielmehr in Gruppen ausgeprägt. Dabei haben Meinungsfreudige mit hoher persönlicher Dominanz einen Vorteil. Über die Qualität von Meinungen sagt die Lautstärke, mit der sie vertreten werden allerdings nichts aus. Mich macht Lautstärke und Vehemenz sogar besonders kritisch. Darin steckt oft nur Headline-Wissen.
Ich habe keine Meinung - wie toll!
Wer unsicher ist, hält seine Meinung eher zurück. Er oder sie traut sich die Meinung nicht zu, hat aber meistens deutlich bessere Impulse als der Schreihals. In Gruppen müssen wir Wege finden, diese sichtbar zu machen.
Auch reflektierte Persönlichkeiten sind vorsichtiger, wägen ihre Wortwahl. Deshalb finden sie typischerweise weniger Follower. Nachdenken ist einfach zu anstrengend.
Reflexion ist nichts für die Masse. Svenja Hofert
Es gibt aber auch Menschen, die zu vielem keine Meinung haben. Ich halte das sogar für eine besondere Kompetenz. Denn oft ist das nicht Beliebigkeit, sondern Demut: Was soll ich mir eine Meinung zu etwas bilden, das ich gar nicht beurteilen kann?
Künstliche Intelligenz & Meinungsbildung
Künstliche Intelligenz kann in Zukunft zur Meinungsbildung beitragen. Sie könnte uns sagen, was wir wissen könnten, wenn unser Gehirn in der Lage wäre, Milliarden Datensätze durchzuscrollen und passende Algorithmen zu nutzen. Oder uns kluge Fragen stellen (anstatt wie im Moment, prüfungsrelevantes Wissen auszuspucken). Da Meinung sich ja auf die momentane Situation – auf das was wir wissen können – beziehen sollte, halte ich die Anwendung hier für besonders relevant.
Meinungen sind Wegbereiter von Entscheidungen. Investieren oder nicht? Gehen oder bleiben? Je mehr unterschiedliche Meinungen ein Pro und Contra bilden, desto eher können Meinungsvielfalt und Diskurs entstehen. Wenn diese Meinungen sich aber nicht durch neue Informationen immer wieder verändern, wären werden wir die Zukunft nicht meistern.
Und davon bin ich wirklich überzeugt. Also lasst uns daran arbeiten, Meinungen so zu entwickeln, dass sie von vorneherein zur Veränderung bereit stehen.
Test als Podcast:
Herzliche Einladung
Am 04.09.23 um 18:30 Uhr starte ich meinen ersten Livestream mit Fragen und Antworten zur Psychologie der Veränderung. Keine Ahnung ob das funktioniert. Hier kannst du dabei sein.
Weiter: Lesen, Sehen & Hören
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Konflikte und wie man damit umgeht - im Teamworks Blog hier
Daniel Stelter, Beyond the obvious “Wir können nicht einfach weg”. Diskussion über den Industriestrompreis mit Clemens Küpper vom Bundesverband der Deutschen Gießereiindustrie, hier.
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Mein neues Buch “Mach dich frei” stellt 100 Mentale Modelle vor, die einen vom “Inhalt” des Industriezeitalters befreien und wird auch als Hörbuch erscheinen,jetzt vorbestellbar.
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Psychologie der Veränderung: Mein Präsenzkurs startet wieder am 11.9.2023 in Hamburg. Für alle, die psychologische und psychodynamische Zusammenhänge in der Veränderung besser verstehen wollen. Infos.
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Am 28.9.23, 15 Uhr bin ich beim Personalkongress des VDA in Wiesloch und spreche in meiner Keynote über New Work, Agiles Arbeiten und Positive Leadership. Hier könnt ihr euch informieren.
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