No. 60 Hört auf zu coachen - über ein Missverständnis
Mit „Hört auf zu coachen“ adressierte ich diese Woche ein Bild garniert mit ein paar Gedanken an meine Community. “Hört auf zu coachen” heißt im Übrigen auch eines meiner Bücher. Dort ist es nicht nur als freundlich gemeintes “Stopp” an Führungskräfte zu verstehen, sondern auch an Coachs und Berater.
Der Post ging viral, bekam rund 1.100 Likes und wurde 100.000 Mal aufgerufen. Ein Post ist natürlich kein umfassender Debattenbeitrag. Deshalb möchte ich hier noch etwas ausholen. Mir ist es wichtig, zu sensibilisieren, die Aufmerksamkeit auf Phänomene zu lenken - etwa die Manipulation.
Dass ich die Manipulierer unter den vermeintlichen Coachs für gefährlich halte, habe ich bereits öfter gesagt. Denn sie ziehen Menschen an, die keine integrierte Persönlichkeit haben. Genau dieser Personenkreis liegt auch auf dem Opfertisch der „Führungskraft als Coach“. Warum?
Die nicht integrierte Persönlichkeit
Die nicht integrierte Persönlichkeit kann keine Grenzen um sich ziehen. Sie sucht ihr Heil im Außen. Sie ist nicht genug „Ich“ um sich vom „Du“ und vom „Wir“ abzugrenzen. Ihr fehlt die Fähigkeit, aus sich selbst heraus „nein“ zu sagen (instrumentelle „Neins“ sind möglich). Sie spürt sich nicht und läuft einer „Idealform“ hinterher.
Die nicht integrierte Persönlichkeit liebt sich auch nicht. Und kann deshalb auch andere kaum lieben, bestenfalls bewundern. Svenja Hofert
Im Sinne Jane Loevingers Ich-Entwicklung betrifft das Menschen, die noch keine so genannten „E6“, die selbstbestimmten Stufe erreicht haben. Man schaut als Psychoanalytiker oder Gestalttherapeut anders darauf, aber sieht im Grunde das gleiche Phänomen: Den fehlenden Bezug zu sich selbst, einschließlich der eigenen Gefühle und Bedürfnisse.
Werte sind nicht die eigenen, sondern introjiziert. Man ist, wie man sein soll. Sind wir aufmerksam, erkennen wir eine fehlende Verbindung zwischen Körper und Geist. Eigene Bedürfnisse spürt ein Mensch nicht, der (noch) nicht ausreichend auf eine Ich-Instanz zurückgreifen kann.
Denn sie spüren sich nicht….
Coaching könnte nun dazu beitragen, dass Gedanken, Gefühle und Handlungen in Schwung und Harmonie kommen. Es könnte dafür sorgen, dass Menschen spüren, was sie wollen. „Was willst du wirklich?“ Andere, die aufmerksam sind, merken es an den glänzenden Augen, wenn jemand spricht.
Und nein, gerade diese Menschen merken ihre glänzenden Augen nicht selbst. Da hilft Rückmeldung in einer guten, vertrauensvollen Beziehung. Und diese ist im Coaching ebenso wie in der Therapie das wichtigste - wie auch aktuelle Coachingforschung zeigt.
Wir gehen bei der coachenden Führungskraft von zwei Fehlannahmen aus:
Einer vollständig integrierten Persönlichkeit, die es aber eben allzu oft nicht gibt.
Der Möglichkeit einer (echten) Beziehung innerhalb eines Abhängigkeitsverhältnisses.
Denn nun kommt das Paradoxe: Organisationen - nicht notwendig ihre Führungskräfte - können ein Interesse an nicht-integrierten Persönlichkeiten haben. Diese sind gut (ver-)führbar. Sie bringen Leistung ja eben nicht oder nicht nur aus eigenem Antrieb. Sie bringen sie, weil sie gelernt haben, immer noch mehr zu geben.
Coaching entwickelt sich Richtung Counseling, wenn tiefere Schichten der Persönlichkeit berührt sind. Wenn es dahin kommt, wo etwas quersitzt oder Gefühle eingemauert sind. Leider gibt es dafür in Deutschland weder Ausbildung noch Begriffsakzeptanz.
Counseling ist noch nicht richtig Therapie, aber eben auch nicht dieser kleine Impuls des Speedcoachings.
Führungskräfte als Coach – eine spezielle Kategorie
Und hier kommen wir zum Kern meines Posts. Anders als die „ausbeuterischen Manipulationscoaches“ sind solche Führungskräfte mitunter gutwillige, durchaus empathische Menschen, die gerne unterstützen wollen und ihre Rolle auch sehr ernst nehmen…. oder halt, sie nicht so sehen wollen, wie sie ist. Eine Rolle!
Die deshalb nicht verstehen, dass sie in ihrer Rolle vielleicht mal eine Coaching-Frage stellen können, aber in dem Sinn kein Coach werden können. Dasselbe gilt für agile Coaches. Letztere sind Berater, vielleicht Moderatoren, nicht selten Trainer. Oft füllen sie ohne es zu merken zusätzlich ein Führungsvakuum.
Was sollten Führungskräfte wissen?
Ein paar Hinweise:
1. Coachingmethode ist nicht Coachingprozess
Eine Coachingmethode bedeutet z.B., die Wunderfrage oder eine Frage aus der 3. Perspektive zu stellen. Es kann auch bedeuten, aktiv im Sinne Carl Rogers zuzuhören. Führungskräfte können vor allem aktives Zuhören lernen. Sie können auch systemische Fragen stellen oder das ein oder andere Tool anwenden. Wenn die anderen es wollen – wirklich wollen und nicht nur höflich sind oder eben abhängig “ja” sagen.
Coaching als Prozess erfordert, dass der Coach nur ein Interesse hat: Dem Klienten zu helfen, Ziele und Zielkonflikte zu klären, eigene Entscheidungen zu treffen und zu eigenen Lösungen zu kommen (wenn es darum überhaupt geht). Das passt z.B. nicht zu verordneten Leistungszielen. Und auch nicht zu einer innerlich bedürftigen Haltung.
2. Eine Rolle hat man - und sie wird zugeschrieben
Rolle wird oft missverstanden. Eine Rolle ist die Summe der Erwartungen, die an eine Person implizit gestellt werden. Was auf Papier steht, ist dabei nicht maßgeblich; das ist mitunter nur eine Aufgabenliste. Eine Rolle ist somit auch im jeweiligen Kontext gelernt. Eine Führungskraft kann ihren Mitarbeitern kaum ein differenziertes Rollenverständnis abverlangen. Der Mörder ist eben immer… der Gärtner. Und die Führungskraft hat eben eine Position und Funktion in der Organisation, die auch ihre Rolle moderiert.
Ihre Rolle ist damit aus der Perspektive der anderen gesetzt. Der eigene Anspruch kann dem kaum entgegenwirken. Die Führungskraft als Coach ist erst einmal ein Alien. Spätestens in unternehmerischen Krisen oder wenn es darum geht, auch unangenehme Botschaften an Mann und Frau zu tragen, wird klar, dass es eben doch der Gärtner war…. Eine Führungskraft wäre ja auch eine schlechte Führungskraft, wenn sie absichtslos wäre. Und selbst wenn sie es innerlich zu sein sucht: In der implizit zugeschriebenen Rolle ist es unmöglich.
3. Eine Rolle hat man und sie wird zugeschrieben
Im internationalen Raum wird Coaching höchst unterschiedlich verstanden. Im amerikanischen Verständnis ist der Coach auch der Trainer. Er wird als Motivator angesehen. Das Coaching ist zielbezogen. Das, was wir in Deutschland oft als Coaching verstehen ist dort eher Counseling. Allein deshalb muss man in Organisationen darüber sprechen, welches Verständnis der eigenen Begriffsnutzung zugrunde liegt. Auch zwischen Coaching und Beratung, Training und Moderation wird nicht ausreichend unterschieden.
Missverständnisse entstehen dadurch, dass mit Begriffen hantiert wird, ohne sie mit Leben zu füllen. Dass man Unterschiedliches meint, wird erst deutlich, wenn man unter die Oberfläche taucht. Das ist der Grund, warum das so viele vermeiden.
4. Coaching braucht reflektierte Praxis
Bestimmte Dinge können wir schnell lernen, andere brauchen Zeit. Dazu gehört beispielsweise die Fähigkeit, mit Menschen mitzuschwingen. Und das braucht Lebenserfahrung inklusive eigener Lebenskrisen. Menschen entwickeln sich, indem sie mehr und mehr sie selbst werden. Es ist eher ungewöhnlich, dass jemand mit 22 Jahren schon an diesem Punkt ist. Es braucht umfangreiche Resonanzerfahrung und reflektierte Praxis in einerSupervision durch erfahrene Coaches, die es in Unternehmen nicht in dieser Form bieten können.
Kunstfertigkeit im Zwischenmenschlichen wächst, je mehr man mit Schwierigkeiten konfrontiert ist. Sie steigt mit der Zahl kulturübergreifender Erfahrungen - und hier meine ich auch Unternehmens- und Berufskultur.
5. Die Kunst ist die Fähigkeit, jenseits der Sprache zu fühlen
Was gesagt wurde, ist nicht das, was gefühlt wurde. Dennoch orientieren sich viele an Sprache.
Doch das Verbale geht gerade dann nicht Hand in Hand mit dem Nonverbalen, wenn man fremde Bedürfnisse in der Organisation erfüllt. In diesem Gap liegt oft ein großer Entwicklungsspielraum und damit Coaching-Wirkung. Deshalb ist Coaching auch das hinter den Zeilen lesen, das Nachspüren und Mitschwingen. Das kann eine Führungskraft schon deshalb nicht, weil ihr Aufmerksamkeitsfokus woanders liegen muss. Andernfalls würde das System über kurz oder lang Schwierigkeiten mit ihr bekommen…
6. Die Aufgabe einer Organisation ist nicht, es allen Menschen gut gehen zu lassen
Womit wir beim nächsten Punkt wären: Bei einer solchen Einzelsicht würde der Fokus auch viel zu sehr auf den Einzelnen verlagert. Für die Organisation (!) ist der Einzelne aber nicht die Zielgröße. Ganz im Gegenteil: Die Orientierung am Einzelnen ist aus Organisations-Perspektive sogar schädlich. Es gilt, sich auf das Organisieren der kleinen und großen Kollektive zu konzentrierten. Und genau das ist auch der Grund, warum Organisationen sich Mitarbeitende nicht mit Haut und Haaren einverleiben dürfen. Sie müssen privat bleiben dürfen. Auch damit sie einen Raum für Coaching behalten…
7. Feedback ist maximal trügerisch
„Ich hab´ ja so gutes Feedback bekommen.“ So gut wie jeder Neucoach macht am Anfang positive Erfahrungen. Erstens weil die Leute höflich sind, und zweitens weil man es anfangs mit leichten Fällen zu tun hat. Wie wenig dieses Feedback aussagt, weiß vermutlich jeder, der mal in längeren Prozessen gearbeitet hat. Die Resonanz der ersten drei Stunden sagt nichts. Entscheidend ist, was danach kommt. Natürlich gibt es die Fälle, wo ein kleiner Impuls ganz viel bewegt. Und gerade hier können Führungskräfte ein Strahlen auslösen. Darauf kann man sich ja gern konzentrieren.
In diesem Sinne: „Hört auf zu coachen“ – und fangt an, euch auf das zu konzentrieren, was eure Rolle von euch verlangt. Vielleicht ist das ja am Ende ja auch ganz entlastend :-)
Als Podcast:
Weiter: Lesen, Sehen & Hören
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Svenja Hofert: Hört auf zu coachen, 2. überarbeitete Neuauflage, erscheint, 2024 bei Vahlen (bestellbar)
Foto: istock Paul Bradbury
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