Hör nicht auf dein Bauchgefühl
Newsletter 015 über Bauchgefühle, Intuition, den Chatbot LaMDA und kognitive Verzerrungen
Kaiser Wilhelm war sich sicher, dass das Auto gegen das Pferd keine Chance hätte. Das hatte er einfach im Bauch. Der Hund meiner Mutter hat im Bauch, wann der Postbote kommt. Dann läuft er zur Tür.
Preisfrage: Wer hat nun das bessere Bauchgefühl?
Eindeutig, der Hund. Sollten wir deshalb das Fühlen den Pferden… äh, Hunden überlassen?
Ein Chatbot hat auch Gefühle… Echt jetzt?
Ich war mir sicher, dass Künstliche Intelligenz niemals ein Bewusstsein entwickeln würde. Das habe ich mir angelesen. Ich sehe mich nicht in der Lage, zu komplexen Zukunftsthemen ein Bauchgefühl zu entwickeln. Allenfalls eine Meinung.
Nun las ich über den Chatbot Lamba, der für seine Persönlichkeitsrechte vor Gericht ziehen will. Sein Entwickler Blake Lemoine glaubt an Lamdas Bewusstsein, weshalb Google ihn jetzt supendierte. Denn für den Konzern steht viel auf dem Spiel: Eine KI mit Bewusstsein dürfte man nicht abschalten. Das wäre dann Mord…
Lemoine wird möglicherweise behaupten, es sei nicht sein Bauch, der an Lamdas Bewusstsein glaube. Vermutlich argumentiert er mit dem Verstand. Aber im Ergebnis landet er beim selben Punkt wie ich. Er glaubt ohne echten Beweis. Und ich glaube nicht, auch ohne echten Beweis.
Fraglos habe ich ungleich weniger Fachexpertise. Aber hat Lemoine deshalb recht? Wissen, Fühlen… Sobald einem etwas anhaftet (etwa die Liebe zu seiner KI, die in Lemoines Fall möglicherweise Selbstliebe ist), ist das alles eine Suppe. Erste Regel also: Anhaftungen wie Macht, Status, Titel und Liebesbesitz killen echte Bauchgefühle.
Ist ein Bauchgefühl das, was ich als solches wahrnehme?
Dann könnten wir noch Lamda fragen, ob sie ein Bauchgefühl habe. Vermutlich sagt sie „ja“. Viele meiner Coachees dachten sie hätten ein Bauchgefühl; es änderte sich oft alle paar Tage wie das Wetter. Das waren in Wahrheit Botschaften aus der Vergangenheit. Keine Bauchgefühle.
Wir können keine Grenzen zwischen Bauchgefühl und Verstand ziehen. Und das ist der Punkt: Wir versuchen es trotzdem, zum Beispiel weil wir Bauchgefühl als überlegen ansehen.
Ich habe Studien recherchiert, die die Überlegenheit der Bauchentscheidung gegenüber einem Algorithmus zu belegen behaupten. Es gibt sie - sie geben Managerinnen einen Freifahrschein, die bei weitreichenden Entscheidungen an ihr Bauchgefühl glauben. Aber vielleicht war die KI eine Lusche - eine Früh- oder Fehlentwicklung?
Denk wie ein Wissenschaftler
Und überdies: Dieses Entweder-oder-Ding ist für die Tonne. Glücklicherweise fordert nun auch der Harvard Business Manager, das Manager wie Wissenschaftler denken und handeln sollten. Und das heißt… Slowdown, erst mal verstehen, Hypothesen bilden.
Damit wir vom selben sprechen: Ich definiere Bauchgefühl als inneren Kompass, „ja“ oder „nein“ oder „da geht´s lang“ oder „so ist es richtig“. Das möchte ich gern von Intuition abgrenzen. Das ist für mich etwas anderes: Intuition ist eine innere Stimme, der Ruf.
Auf einen Blick:
Das Bauchgefühl ist gefüttert durch die eigene Erfahrung, die reichlich oder spärlich sein kann. Viele Menschen hören mit dem ersten „bei dem Typen habe ich ein schlechtes Bauchgefühl“ auf sich mit dem Typen Überhaupt zu beschäftigen. Wodurch das Bauchgefühl dann ewig bestätigt bleibt. Bauchgefühl ist Vergangenheit. Der Hund meiner Mutter schließt aus der Vergangenheit. Aber vielleicht hört er auch einfach nur so gut…
Die Intuition geht darüber hinaus. Sie beinhaltet die Ahnung von der Zukunft. Keiner weiß woher das kommt.
Im Daniel-Kahnemann-Sinn ist beides schnelles Denken. Und braucht natürlich seinen Zwilling, das langsame. Aber so wie Bauch und Kopf getrennt werden, werden auch diese beiden künstlich voneinander ferngehalten.
Wenn Bauchgefühl ungeprüft passiert…
Es gibt einen leider zu großen Personenkreis, der sich nicht in die Zone des langsamen Denken begibt, ergo sein Bauchgefühl ungeprüft passieren lässt. Bei weitreichenden Entscheidungen eine Katastrophe. Doch die Zukunft ist keine Verlängerung der Vergangenheit. Und deshalb taugt Bauchgefühl nichts für Zukunftsentscheidungen.
Manche Menschen haften an Überzeugungen der Vergangenheit – auch wenn es mittlerweile Beweise dafür gibt, dass sie falsch lagen. Das aber wollen sie entweder gar nicht wissen oder aber sie anerkennen die Beweise nicht, zum Beispiel weil sie damit auch Experten „der anderen Seite“ recht geben müssten. Und im Umgang mit anderen Positionen sind wir sehr ungnädig, wie man nicht nur in Pandemiefragen sehen kann.
Rückschaufehler: gesund, aber eben auch trügerisch
Auch sporadische Erinnerungslücken tauchen auf. Sowie alle Arten kognitiver Verzerrungen, allen voran der Hindsight Bias. Dabei interpretiert man sich die Vergangenheit einfach neu. Ein sehr gesunder psychologischer Mechanismus, wenn es darum geht „eine glückliche Kindheit gehabt zu haben“, wie Erich Kästner einst formulierte. Denn auch hier zeigt sich: Es geht mehr um das Gefühl zur Sache als um die Sache an sich.
Wir müssen uns besser selbst kennenlernen
Das sollte jedem in einer verantwortungsvollen Position, und welche ist das nicht, klar sein: Wir müssen uns dieser Mechanismen bewusst sein. Bei jeder Diskussion und erst recht bei Entscheidungen. Deshalb sind Studien müßig, die Mensch und Maschine vergleichen, um hinterher zu ermitteln, wer besser urteilt. Es muss doch vielmehr die Frage im Raum stehen, wie man zu guten Entscheidungen kommt, die Vorteile verbinden.
Die meisten Menschen, auch und oft gerade die mit riesig hohem IQ, kennen sich nicht selbst. Sie wissen nicht wie sie funktionieren. Deshalb können sie sich nicht selbst austricksen. Auch die Umgebung bremst leider nicht, zum Beispiel aus Ehrfurcht.
Der Bauch muss lernen
Zur richtigen Zeit angewendetes Bauchgefühl könnte eine wirklich gute Sache sein. Im Bauch sitzt ja ein Art zweites Hirn. Wenn es im Magen grummelt, dann hat das seinen Grund. Darmerkrankungen beispielsweise sind oft psychosomatisch.
Der Punkt ist also oft jener: Der Bauch hat nicht alles aus der Vergangenheit produktiv verarbeiten können. Wir waren gar nicht immer bei uns, bei unserem Bauch. Was soll er uns also zurückmelden?
Zeit also, etwas besser hinzuhören. Ist das ein Bauchgefühl? Wie ist es genau beschaffen? Mit welchen Emotionen verbunden? Und was sagt es über meine Vergangenheit?
Weiterlesen
Über das Thema habe ich vor fast 10 Jahren schon Mal geschrieben, damals unter dem Titel Trügerisches Bauchgefühl.
Ein bisschen wissenschaftlicher Background für die diejenigen, die sich mit dem Bauchgefühl noch weniger beschäftigt haben gibt es hier bei Spektrum.
Wer noch mehr wissen will, dem empfehle ich neben Daniel Kahnemanns Klassiker “Schnelles Denken, langsames Denken” auch Gerd Gigerenzer “Bauchentscheidungen” (das könnt ihr selbst googeln ;-))
Termine
Unser Angebot bei Teamworks: Alle Termine. In meinen Kursen, etwa Psychologie der Veränderung, integriere ich verhaltensökonomische und psychologische Themen.
Foto von Anna Shvets