Lassen Sie uns öfter mal träumen
Newsletter 002 Halluzinogene Transformation, Hypnagogie, Dreamhacking und Transformation
Werte Weiterdenkende,
lebt unsere Erde? Glauben Sie, dass Tiere ein Bewusstsein haben? Wie ist es mit Pflanzen? Oder mit Gegenständen? Lebt der Teddy Ihres Kindes oder das Buch, das Sie so sehr lieben?
Bewusstseinserweiterung
Menschen, die psychedelische Drogen nehmen, glauben nach einem Trip eher, dass Pflanzen ein Eigenleben haben. Auch Gegenständen schreiben Personen, die Pilze oder LSD genommen haben, wahrscheinlicher eine Art Bewusstsein zu. Das Bewusstsein erweitert sich nicht in Richtung auf einen selbst, sondern in Richtung auf andere.
Ich möchte Sie jetzt sicher nicht verführen, Drogen zu nehmen. Gleichwohl beschäftigt mich die Frage, wie wir zu Veränderungen kommen können. Veränderung, die nicht verengen, sondern weiten: Unsere Blick, unsere Perspektiven, unseren Handlungsraum. Ohne dass wir dafür schädliche Substanzen nehmen müssen.
Geschieht das, indem wir Scrumifiziert bunte Zettel kleben? In Design Thinking-Prozessen domestiziert durch fünf bis sechs Prozessschritte tanzen? In Working-Out-Loud-Zirkeln Aufgaben befolgen, die uns ins überlaufene Social Media-Universum schießen?
Ich habe und höre da Zweifel. Neulich auf einem Vortrag im sozialen Bereich waren Teilnehmende nach einem WOL-Projekt eher enttäuscht von der Methode. Wer von Haus aus rege kommuniziert, wundert sich über diese sechswöchige Kommunikationslauflernhilfe. Das zeigt wieder mal: One fits not all. Was Konzernmitarbeitenden fast revolutionär scheint, ist für Menschen, die von Haus aus mit den unterschiedlichsten Leuten offen kommunizieren… sagen wir: überbewertet. Ich meine: Wir müssen unsere kollektiven mentalen Modelle erweitern, ausdifferenzieren. Und dafür gibt es diesen Monat viel Lesestoff von mir. Aber dazu später mehr.
Dazu braucht es einen Blick auf Grundannahmen zu Veränderung. Wir überschätzen unsere natürliche Veränderungsfähigkeit. Menschen verändern sich nicht ohne Grund, Organisationen wandeln sich nicht nur, weil sie sich „agil“ nennen. Ein WOL-Zirkel gibt Impulse, aber die eigene Welt ist danach immer noch ein Mikrokosmos.
Posttraumatisches Wachstum
Die Gründe für echte, für fundamentale Kehrtwendungen haben mit Verlust, Krankheit und traumatischen Erlebnissen zu tun. Wenn ich den kleinen Jungen in der Ukraine am Grab seiner Mutter singen sehe, weine ich mit. Sein Leben wird ein anderes sein. Meines ist nun durch dieses Bild geprägt und ich weiß, verdammt, das ist doch nur das Bild. Wie unendlich viel mehr sehe ich nicht?
Posttraumatisches Wachstum ist ein verdammt zweischneidiges Schwert, weil es keine Garantie dafür gibt, dass es entsteht. Es wächst nicht automatisch jeder. Da ist ein anderes Bild: Dieser andere ukrainische Junge, der im Campingwagen in der U-Bahnstation ausprobiert, ob seine Pflanzen hier wachsen. Wenn das Umfeld einem keine Chance lässt, dann muss man einfach…
Doch wir leben in einem noch weitestgehend stabilen Umfeld, trotz Inflation und erhöhter Preise. Mein Leben und ihres hat nur zarte Berührungen mit anderen Welten. Wir ahnen, dass es draußen viel mehr und anderes gibt, dass wir sehen könnten, aber es soll besser eine Ahnung bleiben. Deshalb verleugnen wir die Krise auch dann noch, wenn sie da ist. “Menschen reagieren mit zwei Mustern. Sie schalten in den Überlebensmodus – oder sie wachsen”, schrieb der Harvard Business Manager im November 2021 zur neuen Normalität, der Dauerkrise.
“Ich weiß nicht, ob ich mich auf diesen Prozess der Reflexion einlassen soll, er könnte ja alles verändern und ich will meine Familie nicht verlassen”, sagte mir neulich eine Führungskraft im Hamsterrad. Es hat nicht immer nur berufliche Gründe, warum Menschen sich der Reflexion verweigern. Weshalb ich der Meinung bin, dass es Business Coaching in dem Sinne nicht geben kann. Es sind unsere Muster, die Lösungen blockieren. Deshalb müssen wir mehr in uns hineinschauen.
Halluzinogene
Gibt es nicht also andere Wege, jenseits von Coaching, Reflexion überhaupt? Psychedelic Retreats sind ein großes Thema. Auch in die Psychotherapie ziehen Halluzinogene ein. Es hat einen Grund: Es passiert vieles so schnell, wir kommen nicht mit.
„Vor einer Milliarde Jahren wurde uns das Leben geschenkt. Macht etwas daraus!“ Der Film Lucy von Luc Basson mit Scarlett Johannson aus dem Jahr 2014 endet mit diesem Satz, aber noch eindrücklicher ist mir das Bild in Erinnerung geblieben. Lucy ist nicht mehr nur Mensch, sondern geht in ihrer Umgebung auf, verschmilzt mit den Pflanzen, mit Raum und Zeit.
Da wären wir wieder bei den halluzinogenen Substanzen. Mit 19 Jahren hatte ich ein eindrückliches Erlebnis unter Drogen. Mit einem VW-Bus war ich mit Freunden in einem Wald gefahren. Wir hatten etwas geraucht, von dem ich nicht genau weiß, was es war. Vor mir verwandelte sich die Umgebung in einem Zauberwald: die Bäume bekamen Gesichter. Sie bewegten sich, lächelten mich an und winkten mir zu. Sie zerflossen und verschmolzen mit mir. Seitdem verstehe ich meine Mutter, die mit Pflanzen spricht. Waldbaden kommt mir überhaupt nicht schräg vor.
Begegnungen
Neben halluzigenen Substanzen sind es Begegnungen, die einen verändern. Die können persönlich sein, aber auch virtuell. Begegnungen erweitern die eigene Welt. Durch Begegnungen sieht man, was man vorher nicht gesehen hat. Deshalb meiden Diktatoren und autoritäre Persönlichkeiten die Begegnung, die nicht einfach nur ein Treffen ist. Die Begegnung mit anderen ist des Teufels. Denn sie wirkt bewusstseinserweiternd. Sie verhindert Gruppendenken: Wenn ich anderes Denken einlasse, verlasse ich meine kleine, enge Welt.
Einmal konnte ich nachts nicht schlafen, zu viel Ukraine. Da entschied ich mich, eine Arte-Dokumentation über Träume zu sehen. Darin trat ein junger Forscher namens Adam Haar Horowitz auf. Er ist Neurowissenschaftler und forscht am MIT an fluiden Interfaces, die Dream Hacking betreiben. Das sind Erweiterungen des menschlichen Körpers, die das Träumen beeinflussen. Träume sind dem Drogenerleben sehr nah. Im Traum ist unser präfrontaler Cortex schlafen gelegt, wo der Verstand beheimatet ist. Träume sind genauso wirklich wie unsere Wirklichkeit – nur dass sie uns eine andere Welt zeigen.
Hypnagogie
Als Hypnagogie bezeichnet man die phänomenologische Unvorhersehbarkeit, die verzerrte Wahrnehmung von Raum und Zeit und spontane, fließende Ideenassoziationen. Genau das ist es, was in Träumen entstehen kann – dann sind wache Träume die Quelle von Inspiration und Kunst. Edison, Tesla, Poe und Dalí erreichten diesen Zustand, indem sie mit einer Stahlkugel in der Hand ein Nickerchen machten. Kreative Ideen in hypnagogischen Mikroträumen entstanden, wenn die Kugel auf den Boden fiel. Wenn Sie sich fragen, warum ich dieses Beitragsbild ausgewählt habe: Ich fand, es ist ein schönes Traumbild, das auch für die Wachwelt taugt.
Dieses Prinzip versucht Horowitz mit seinem Team nachzubilden, indem er einen interaktiven sozialen Roboter mit einem System zur Verfolgung von Schlafstadien und auditivem Biofeedback einsetzt. So lassen sich hypnagogische Mikroträume beeinflussen, aus ihnen Informationen extrahieren und erweitern. Es geht um nicht weniger als um die Steigerung menschlicher Kreativität.
Gehirn ausschalten
Und da sind wir am Punkt: Um wirkliche kreative Lösungen zu finden, müssen wir wahrscheinlich öfter mal unser waches Gehirn ausschalten. Ich versuche das, angeregt durch Horowitz, jetzt häufiger. Dieser Dämmerschlaf, das luzide Wachsein, wenn man nicht richtig schläft, aber auch nicht wach ist, lässt einen fliegen, rückwärts fahren und versinken. Ich habe mir auch eine Kugel besorgt.
Es bringt keine direkten Ergebnisse, keine schnellen Lösungen. Aber es bringt Slowdown, Verlangsamung, Ideen und auch ein bisschen Unendlichkeit. Das Träumen als Zugang zur inneren Transformation hatte ich schon in meinem Buch „Mindshift“ aufgegriffen (ein Geheimtipp von Martin). Es ist so viel mehr als eine Freudsche Verschlüsselungstechnik. Es ist eine andere Welt, die uns Schlüssel zur Wachwelt geben kann.
Nur wenn wir langsamer gehen, sehen wir die Dinge, die jetzt schon ein Stück von der Zukunft zeigen. Nur wenn wir langsamer gehen, begegnen wir uns. Wir machen überraschende Entdeckungen. Ich kann Ihnen jetzt einen vielleicht neuen Begriff schenken und auf jemand aufmerksam machen, den noch wenige kennen, diesen Adam Haar. Vielleicht macht es nun Sie aufmerksam - und dann zieht dieser Adam seine Kreise.
Wenn Sie die Themen dieses Newsletters weiter interessieren, habe ich Ihnen unten Links zusammen gestellt. Außerdem erhalten Sie Verweise zu Texten, die im letzten Monat von mir erschienen sind.
Noch sind wir auf diesem Portal eine kleine eingeschworene Runde von erst zweihundert Abonnenten – nicht zu vergleichen mit meiner Followerschaft bei XING, Linkedin und anderen Kanälen. Wie Sie vielleicht merken, schreibe ich hier anders als sonst. Ich frage mich: Ist das interessant, nehmen Sie etwas mit, was wünschen Sie sich und was denken Sie zu die Themen? Ich freue mich auf etwas Resonanz.
Herzliche Grüße
PS: Business Slowdown erscheint am 26.4.22 als Flexcover, Ebook und auch als Hörbuch! Freue mich, wenn Sie es lesen!
Links zu Dreamhacking:
Sollten wir mehr Träumen? Die besagte Dokumentation auf Arte in der ZDF-Mediathek
Links zu anderen Themen aus dem Artikel
Krise als neue Normalität im Change Management. HBM 11/2021
Psychedelische Drogen in der Medizin. Deutsche Welle 4.10.2021
Meine eigenen Artikel aus dem letzten Monat:
Einbahnstraße Agilität: 8 mentale Modelle für eine postagile Zukunft in Informatik aktuell
My Home is no castle bei XING
Mach mit – auch wenn du dagegen bis bei XING
Redesigning Office Work: Arbeit neu erfinden im Teamworks-Magazin
Im Rahmen der #newworkjetzt Blogparade in meinem persönlichen Blog: New Work 2022 – das Ende der Illusionen
Videos:
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