Grenzmanagement: Gekonnt zwischen Schwarz und Weiß lavieren
No. 43 Zwischenräume, originelles Schattieren und Mezzanine
No. 43 Zwischenräume, originelles Schattieren und Mezzanine
Grenzen sind Übergänge, an denen früher Häuschen standen. Die Ein- und Ausreise wurde kontrolliert. Heute ist das vielfach anders. Dass es jedoch weniger Grenzen gibt, täuscht. Grenzen sind jetzt einfach anderswo.
Es sind Grenzen unserer Blasen und Mikroblasen, Grenzen sozialer Systeme. Ihr Kennzeichen ist, dass auf der einen Seite nicht nur andere Regeln gelten, sondern auch andere Erwartungen herrschen als auf der anderen. Im Raum dazwischen, im Grenzraum verschwimmen diese im Grau. Gilt noch, was in Schwarz galt - oder ist es schon weiß? Ab wann ist Zukunft, und ist sie nun Schwarz oder Weiß?
Ohne das Häuschen mit dem Kontrolleur fehlt die Klarheit.
Hier bauen sich Zwischenräume auf:
In den Grenzen des Ichs: Ich als Unternehmerin handle und denke anders als ich als Coach, aber was ist dazwischen?
In den Grenzen zwischen mir und dir: Verstehst du, dass ich hier als Unternehmerin und dort als Freundin handle und was ist, wenn es für einen unklar ist?
In den Grenzen zwischen Team und Organisation: Wo die Programme der Organisation auf Menschen treffen, fühlt es sich unklar an.
Im Space zwischen In und Out-Gruppe: Wozu gehöre ich, wenn meine Rolle „dazwischen“ ist?
Innerhalb des Grenzraums zwischen Menschen und Strukturen: Erkennen wir in der Rolle den Mensch, oder den Mensch in der Rolle?
In den Zwischenräumen von Vergangenheit und Zukunft oder Alt und Neu: Wo verschwimmt die Vergangenheit mit der Zukunft, wo Alt mit Neu? (oh, der Raum ist riesig).
Es tun sich auch Grenzen in den unterschiedlichen Wahrnehmungen von Grenzen auf. Innerliche Transzendenz, das Verschmelzen von Grenzen, gibt es nur in Augenblicken, wenn überhaupt.
Grenzen ohne Grenzhäuschen sind Pufferzonen, Dehnstreifen.
Deshalb ist Grenzmanagement der härteste Job überhaupt. Das betrifft die eigenen inneren Grenzen, wenn sich ein Schleier zwischen das „alte“ und das neue Ich schiebt: „So war ich und so werde ich sein wollen“. Das betrifft aber auch die äußeren Grenzen, ganz besonders die sozialer Gruppen.
Hut ab vor jenen, die ohne Kontrollhäuschen im Zwischenraum der Interessen agieren. Agile Coaches oder Projektmanager, kurzum alle, die entweder keine formelle Macht haben oder diese nicht nutzen wollen. Zum Beispiel, weil sie wissen, dass damit der Übergang blockiert ist. Wie die Scrum Masterinnen, die sich schützend um ihr Team stellen und sich verbal und emotional gegen das Management stellen - oft fehlt die Pufferzone. Wie das Management, das nicht versteht, was auf der anderen Seite der sozialen Grenze passiert. Auch hier trifft beides direkt aufeinander. Der Zwischenraum wird nicht gesehen. Dabei ist das der Raum, in dem es echte Management-Kompetenzen braucht.
Was wir mit Grenzen tun können:
ignorieren
verteidigen
kontrollieren
verschwimmen lassen
verschwinden lassen
Den kleinen und den großen Grenzverkehr und Durchlauf unterstützen
Wir brauchen: All das.
Olaf Scholz ist ein Grenzmanager. Einer der mehr moderiert als ansagt. So wie es viele Führungskräfte gerade lernen. Sie sollen Rahmen schaffe, befähigen, verbinden, coachen.
Dieser persönliche Stil gefällt dem deutschen Volk aber nicht. Der Mann soll führen, hart durchgreifen, endlich ein Machtwort sprechen – die Grenze kontrollieren. Doch sein Auftrag ist Schaden vom deutschen Volk abzuwenden. Er lautet nicht: Visionen haben, Unternehmen gründen oder die Wahrheit finden. Für das Gegenteil des Schadens, den Gewinn, sind andere zuständig. Das wäre mal eine gute Grenze. Die sieht aber keiner.
Von Natur aus Grau
Grenzmanagerinnen sind von Natur aus grau. Bunter sind die, einfach klar auf einer Seite stehen dürfen, wollen oder können. Die Visionäre, Unternehmerinnen, Wissenschaftler im Prinzip alle, die für Schwarz ODER Weiß zuständig sein dürfen.
Wo Systeme aufeinanderstoßen gehen auch Erwartungen auf Kollisionskurs. Svenja Hofert
Grenzmanagerinnen agieren da, wo Schwarz und Weiß zusammentreffen. Dort, wo Kollisionen stattfinden. Wo unterschiedliche Erwartungen, implizite wie explizite, aufeinanderstoßen. Zum Beispiel da, wo das menschliche Bedürfnis im Team zugehörig zu sein an die Wand organisationaler Realität und Rationalität stößt. Wo Menschen eine Agenda verfolgen, als Teil von Systemen sogar verfolgen müssen. Und wo ein Schulterzucken oft strategisch ist, weil man besser nicht regelt, was von Grautönen lebt.
“Was wird von mir erwartet?”
„Erwartet die Organisation, dass ich mich entwickle?“ fragte kürzlich jemand im Workshop. In solchen Sätzen spiegelt sich die Überforderung von Menschen, die mit dem ungeregelten Raum an Grenzen Probleme haben. Ein leeres Grenzhäuschen fordert die Grenzmanagerin in mir selbst heraus – fahre ich vorbei, auch wenn es nicht erlaubt ist?
Menschen, die an Unklarheit und Ungeklärtheit verzweifeln, sind als Grenzmanager nicht gut geeignet.
Grenzmanagerinnen brauchen Abenteuerlust. Menschen, die an Unklarheit und Ungeklärtheit verzweifeln, sind dafür nicht gut geeignet. Wer eine eindeutige, normative Ausrichtung braucht, ist anderswo besser aufgehoben. Der lösungsfreie, ungeregelte Raum braucht eine relativierende Haltung.
Ich erlebe, dass die die mit zu viel Idealen im Gepäck unterwegs sind, die von Augenhöhe träumen und einer besseren Arbeitswelt, diese nicht einnehmen können. Sie sehen nicht den Zauber des Zwischenraums, sondern nur dessen Wände. So haben Schwierigkeiten, Mezzanine zu bauen. Das sind kreative Zwischenräume.
Die Grauzone als Land des Bittersüßen
Mezzanine heißt auch das 1998er Album von Massive Attack. Darauf ist der Song Teardrop. Ich habe nie wirklich verstanden, worum es darin geht, außer um irgendwas mit Liebe. Das Lied ist eine einzige, inhaltsleere Grauzone, Bittersüß. Aber es geht auch nicht um die Worte. Es geht um die Stimmung des Songs. Sie legt sich wie ein Schleier über einen. Sie ist ganz viel weder noch, weder traurig noch fröhlich, weder bitter noch süß. Und genauso fühlt es sich an Grenzen oft an, ein bisschen melancholisch. Dort ist das Ende des einen und der Anfang des anderen, dort sind mixed emotions.
Man gehört dazu, ohne dazuzugehören.
Der Begriff Mezzanine kommt ursprünglich aus der Architektur. Es ist der Zwischenraum, die Etage, die es eigentlich nicht gibt. Ich finde das Bild sagt alles. Ja, so könnte es sein. Leicht und entspannt in den Zwischenräumen einen Drink genießen. In Zwischenräumen, die man selbst schafft und gestaltet. Froh darüber, dass man Weltenreisende ist und auch nicht dazu gehören muss.
Fünf Tipps für Grenzmanagerinnen
Praktisch heißt all das:
Für wen passt Grenzmanagement? Der Job als Grenzmanager in Unternehmen fordert kreatives Mezzanin-Denken und Menschen, die Widersprüche nicht auflösen müssen und eine relativierende Haltung einnehmen können.
Mach die Spannung in den Zwischenräumen sichtbar. Welche Erwartungen gibt es, was sind formelle und was auch nur informelle Regeln? Welche Erwartungen von Erwartungen gibt es?
Arbeite das Gestaltbare heraus. Rund um dich gibt es ein Bedürfnis nach Eindeutigkeit und Wahrheit. Dein Job ist es die Mezzanine sichtbar zu machen.
Such erst gar nicht nach Klarheit. Sei dir klar, dass es über das Unklare niemals einen klaren Auftrag geben wird. Du bewegst dich im Spielraum – und dehnst ihn selbst.
Suche die Verbindung nicht (immer) im Kompromiss. Das Bittersüße ist eine neue Qualität, kein Kompromiss. Und so ist es mit allen uneindeutigen Gefühlen, die im Grenzraum typisch sind. Damit umzugehen heißt erstmal, anderen nicht helfen wollen, in Klarheit zu gehen, sondern die Unklarheit anzunehmen, was sie ist - ein Zwischenraum und Zwischenzustand.
Text als Audio-Podcast:
Weiter: Lesen, Sehen & Hören
Susan Cain: Bittersüß, 2023. Hier geht es nicht direkt um Grenzmanagement, aber Cain (die vor Jahren die Introversionas-Welle initiiert hat) rückt das widersprüchliche Gefühl der Melancholie in die Nähe der Transzendenz nach Maslow. Und sie betont die Wichtigkeit von negativen und positiven Gefühlen in einer Welt der Glückssuche. Anregend geschrieben.
In diesem Artikel von 2019 habe ich schon mal über Selbsttranszendenz geschrieben
Da ich immer wieder merke, dass die Grenzen von Ich-Entwicklung und Spiral Dynamics nicht gesehen werden, habe ich dazu diese Woche nach langer Zeit mal wieder ein Video gedreht:
Inspiriert hat mich diese Woche
Der Prozess der Trennung von Büchern, da wir uns im Hamburger Büro verkleinern und Platz einsparen wollen. Ich finde es interessant, bei mir selbst zu beobachten, von welchen Büchern ich mich problemlos trennen kann und von welchen nicht. Von welchen nicht: Es sind immer die zeitlosen Klassiker.
Ein Interview, das Sohrab Salimi am frühen Freitagmorgen mit mir geführt habt. Bald werde ich es hier verlinken.
Offene Termine
Mit Emanuelle Quintarelli bin ich Keynote Speaker auf der Agile World in München. Thema “From Hierarchies to Ecosystems”. Hier findet ihr Infos.
TeamworksPLUS Gruppe 15 steht. Wir freuen uns auf Anmeldungen zu Gruppe 16 Info
Ich merke, dass einige sich fragen, ob sie die Voraussetzungen für die Summer School New Organizing haben. Ihr könnte mich dazu gerne fragen ;-)Hier findet ihr Infos zur Summer School Organisationsentwicklung und zur Masterclass Nextlevelcoaching im Herbst.
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Fortgeschrittene: Meldet euch jetzt schon für meine Summer School Organisationsentwicklung und die Masterclass Nextlevelcoaching im Herbst an.
Nächste TeamworksPLUS-Gruppe startet am 30.3.23. Seid ihr dabei?
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