Glaube nicht, was du denkst
Newsletter 028: Verschwörung, agile Glaubensbekenntnisse und der Fluency-Effekt
Newsletter 028: Verschwörung, agile Glaubensbekenntnisse und der Fluency-Effekt
Als ich „nach flacher Erde“ recherchierte, konnte mein Zugsitznachbar Patrick nicht mehr an sich halten. „Darf ich fragen, was du da machst?“ fragte er irritiert und neugierig zugleich. Ich sagte, dass ich an einem neuen Buch für den Campus-Verlag schreibe. Es geht darin um Denkmodelle, die uns helfen, mit unserer komplexen Welt so umzugehen, dass sie uns nicht vor die Füße knallt oder auf den Kopf fällt.
Verschwörungstheorien wie die der “Flache-Erde-Anhänger” sind weniger Theorien als vielmehr Mythen oder Aberglauben. Mythen und Aberglauben geben Menschen Sicherheit in einer unsicheren Welt. Wer sich in Sicherheit wiegt, muss nicht mehr (mit-)denken. Alles ist wieder einfach. Und so logisch.
Nur noch Echsenmenschen in der Politik
„Kennst du die Echsenmenschen?“ fragte Patrick mich, nachdem wir uns über Menschen ausgetauscht hatten, die daran glaubten, dass die Erde eine Scheibe ist. Wir googelten ein Bild, auf dem Angela Merkel Echsenaugen hat. Sie also auch! Der Echsenmenschen-Mythos geht so: Echsenmenschen leben in der Mitte der Erde. Sie steuern und versklaven uns, halten uns durch Chemtrails gefügig. Nach Merkel sind jetzt nur noch Echsenmenschen in der Politik unterwegs, sagen Anhänger. Scholz und Habeck sind also auch welche.
Patrick erzählte mir von einem Video, das ein Freund gedreht habe. Darin sei ein Experte in einem Interview aufgetreten, der so getan habe, als ob es wissenschaftliche Belege für die Existenz der Echsenmenschen gäbe. Die zahlreichen Kommentatoren hätten den „Fake“ nicht durchschaut. Mich wundert das nicht.
Die denkfreie Zone der Wiederholung
Denn die Verschwörungstheorie wächst in der denkfreien Zone der Wiederholung, des Nachmachens, der Bestätigung durch andere. Die Ohnmacht, die Echsen-Anhänger selbst beklagen, wird durch ihr eigenes Tun erzeugt.
Die Verschwörungstheorie wächst in der denkfreien Zone der Wiederholung, des Nachmachens, der Bestätigung durch andere.
Das Bedürfnis, welches den Aberglauben möglich macht, deutet auf zweierlei:
eine Mangelversorgung mit Sinn,
eine Überforderung durch zunehmende Komplexität, die unser Steinzeit-Gehirn erschlägt.
Die Erkenntnis nährt sich im Gefühl
Wir glauben gern, auch ohne wissenschaftliche Belege. Agilität und was damit verbunden wird, ist oft auch nur ein Glaubensbekenntnis. Was genau wirkt, wenn Veränderung wirkt, ist am Ende diffus und kaum zu ermitteln.
Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge verschwinden im Nebel eigener Überzeugungen, die sicher falsch sind.
Der Wunsch, zu einer Gruppe dazuzugehören füttert Glauben, aber auch Aberglauben. “Da ist jemand, der sieht das wie ich sehe!” Wer etwas klarer denken möchte, dem empfehle ich eine Unterscheidung zwischen Struktur und Inhalt. Die Struktur ist die Orientierung an Zugehörigkeit, der Inhalt… austauschbar. Und da das Internet die Welt gleichzeitig so groß und so klein macht, gibt es immer mehr verschiedene Inhalte. Die jedoch mit der gleichen (Hirn-)Struktur verarbeitet werden. Und die hat sich seit der Steinzeit nicht wesentlich verändert.
So ist Inhalt austauschbar: Flache Erde, Echsenmensch, Q-Anon. Typisch beim Aberglauben (allerdings auch oft beim Glauben…) ist eine hochgradige Fusion mit dem Inhalt. Der Inhalt wird Teil der Person. Sie kann sich nicht mehr davon distanzieren.
Dieses Phänomen finden wir auch fernab der Echsenmenschen: Experten und Politiker sind mitunter so mit einem Inhalt verschmolzen, dass sie widersprechende Fakten nicht mit Distanz betrachten können.
Wir Normalbürger sind auch mit Glaubenssätzen fusioniert, die mitunter mythischen Charakter haben. Ich bete immer noch zum heiligen Antonius, wenn ich etwas verloren habe. Sicher ist sicher..
Die Verschmelzung führt fast automatisch zu einer Schwarzweiß-Sicht. Die Echsenmenschen sind der Herrscher, die anderen die Beherrschten. Das eine ist teuflisch, das andere himmlisch.
Wenn das Böse klar benannt ist, ist man immer auf der Seite der Guten, auch als Mafiaboss.
Wenn das Böse klar benannt ist, ist man immer auf der Seite der Guten. Ob als Echsenmensch, Mafiaboss oder Vertreter von Augenhöhe im Unternehmen.
Das alles steht natürlich auf unterschiedlichen moralischen Leveln. Aber: Die Mechanismen, die uns zu Verschwörungsgläubigen machen, sind Alltagsmechanismen sehr ähnlich.
Der Fluency-Effekt: Wir bevorzugen, was wir ohne Mühe verarbeiten können
Unser Gehirn will keine Arbeit
Das Phänomen lässt sich mit dem Fluency-Effekt aus der Kognitionspsychologie erklären. Der Fluency-Effekt beeinflusst unsere Metakognition, also die Art, in der wir über uns selbst denken. Wenn unser Gehirn Informationen leicht verarbeiten kann, nehmen wir sie eher an.
Auch wenn sie völlig irrational sind - in unserer Welt sind sie logisch. Einfache Informationen verdauen wir dabei leichter. Mehrfach gesehene und gehörte, aber auch erinnerte (auch falsch erinnerte) Dinge setzen sich leichter fest als neue.
Sehe ich einmal einen Echsenmenschen, dann erkenne ich ihn auch unter anderen wieder… Die Bestätigung ist dann allgegenwärtig. Augen sehen auf einmal alle anders aus. Es reicht, dass ich jemand nicht mag.
Ich höre einen Begriff, ich sehe Bilder. Das macht den Inhalt für mein Gehirn verfügbar. Und je öfter wir etwas sehen, desto eher vertrauen wir ihm – auch wenn es kompletter Blödsinn ist.
Selbst Management-Bullshit dringt auf diese Weise in die individuelle Wahrnehmungszone: Je öfter mich der Begriff „Agilität“ beschallt, desto vertrauter wird er.
Eine wichtige Rolle spielt der Status der den jeweiligen Inhalt verbreitenden Personen. Je höher dieser ist, desto wahrscheinlicher ist eine Bestätigung. Es entlastet davon, selbst nachdenken zu müssen, wenn es eine andere Person schon getan hat.
Widersprüche strengen an
Widersprüche und gegensätzliche Meinungen dagegen sind anstrengend. Sie auszublenden ist eine natürliche Neigung, um Gehirnkapazität zu sparen. Wenn es anstrengend zu werden droht, bewerten wir etwas schnell negativ oder ignorieren es gleich ganz. Erst wenn die Stimmen stärker werden und der Status der widersprüchlichen Meinung steigt, öffnen wir uns. Das konnte man in der Corona-Pandemie genauso beobachten wie in der Atomkraftdebatte.
Universitätsabschluss gegen Verschwörungsmythen
Gegen den Glauben an Verschwörungsmythen helfe nur Bildung, meinte mein Zugnachbar. Belege gibt es: Laut Statista schenkten 2020 nur vier Prozent der Uni-Absolventen solchen Verschwörungstheorien Glauben, im Vergleich zu 22 Prozent derjenigen, die nach Volks- oder Hauptschule eine Lehre gemacht haben.
Zum Schluss noch eine Frage zum Selbsttest:
Für wie wahrscheinlich haltet ihr einen Laborunfall als Auslöser der Corona-Pandemie auf einer Skala von 0 bis 10?
Was ihr zu dem Thema gelesen und gehört habt oder eben nicht, wird euch bei der Antwort beeinflussen. Wer sich wenig Informationen zuführt, ist dadurch genauso geprägt wie der fleißige Studien- und Primärquellenleser. Anders die, die bewusst widersprüchliche Quellen konsumieren. Je mehr ich über verschiedene Einschätzungen weiß, desto unsicherer werde ich. Das ist dann noch mal schwerer auszuhalten: Zu wissen, dass man nicht weiß.
Tipps - was sonst noch hilft:
Suche zu jeder Position die jeweilige Gegenposition. Hör sie dir an und verstehe die Perspektive, aus der sie formuliert ist.
Hüte dich vor (deiner) Meinungsbildung allein auf der Basis von Sekundärquellen.
Glaube dir selbst nicht. Denke dass alle Annahmen, Hypothesen sind, die du selbst widerlegen kannst - wenn du willst.
Suche dir deine Experten bewusst aus, denn diese prägen, was du glaubst.
Bewege dich möglichst oft aus deiner Bubble heraus.
Frage nicht, was richtig ist, sondern „woran erkenne ich, was richtig ist?”
Höre interessiert zu - und urteile nicht oder wenigstens nicht zu früh.
Und: Verurteile nicht. Denn das wir so denken, wie wir denken, ist unserem Steinzeithirn geschuldet. Wir sind eben noch lange nicht für eine komplexe Welt gewappnet.
Weiterlesen & mehr von mir
Sollten wir öfter raus aus der Kachel? Die zweite Folge der Gesetze der Gruppendynamik dreht sich um die Dimension “Präsenz”. Was macht den Unterschied zwischen nur Jetzt im virtuellen Raum oder Hier & Jetzt in “live”. Video hier
Warum die Erde doch eine Scheibe ist lest ihr hier.
Inspiriert hat mich diese Woche
Das Buch “Klar denken” von Wow-kyong Ahn. Da geht es auch um den Fluency-Effekt, aber auch noch um einiges mehr. Rezension demnächst bei Instagram.
Die Erinnerung an einen etwas älteren Beitrag über Datenanalysen als Prognose für effektive Teamzusammenarbeit. Im Harvard Business Manager.
Offene Termine
Am 2.12. halte ich auf dem internationalen Management-3.0 -Kongress eine Keynote (Hybrid): “Connecting Dots”. Hier könnt ihr euch anmelden.
Am 7.12. bin ich mit dem Thema “Psychologie der Veränderung” auf dem Online-Kongress “Tools 4 you”. Hier könnt ihr euch anmelden.
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