No. 47 Der Besserwisser-Reflex, Reaktanz und die neue Wunderfrage
Ich hatte eine unangenehme Begegnung mit Konzern-Geschäftsprozessen. Ein Bürokratiemonster hat meine Schaffenskraft drei Tage in Schach gehalten.
So lange habe ich mich mit Apps, Authentifizierung, unübersichtlichen Frontends, Rollen und Rechten, Captschas und SAP-Charme beschäftigt. Dabei ging es nur um eine kleine Rechnung. Doch mein IQ reichte nicht, um all die nötigen Prozessschritte bis zum Vollzug allein zu bewältigen. Ich bekam deshalb Support vom Support. “Ja, passiert öfter”.
Guter Rat erzeugt menschlichen Widerstand
Man gab mir schlussendlich einen guten Rat. Ich solle mit Microsoft Edge und nicht mit Google Chrome und gar Safari arbeiten. „Da ich schon mit Teams auf Kriegsfuß stehe, werde ich mir Edge sicher nicht ins Haus holen“ schaltete ich in den automatischen Anti-Bevormundungs-Modus.
Reaktanz nennen das Motivationspsychologen. Es ist ein sicherer Veränderungskiller.
Reaktanz beschreibt, wie Personen auf empfundene Einengung ihrer Freiheitsspielräume reagieren. Reaktanz ist die Motivation zur Wiederherstellung eingeengter oder eliminierter Freiheitsspielräume.
Oder so gesagt: Wir lassen uns das Steuerrad nicht aus der Hand nehmen.
Wenn ich beengt werde, tue ich alles, um mich wieder zu befreien. Reaktanz tritt immer dann ein, wenn Autonomie beschnitten wird. Es reicht ein guter Rat. Selbst wenn der gute Rat gut gemeint und gewünscht ist. Wir reagieren trotzdem unbewusst mit Rückzug, Abwehr, Verdrängung. Der nicht nur Beratertypische „righting reflex“, das intuitive Besserwissen also, führt also mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Gegenteil des Bezweckten.
„Righting reflex“: Intuitives Besserwissen führt zum Gegenteil des Bezweckten
Ich habe diesen wichtigen motivationspsychologischen Grundsatz auch meinem Mann vermittelt. Der belehrt mich seit Ewigkeiten im Autozufahren. Ich soll das spritsparend tun, rollen und so, wenig bremsen. Dagegen neige ich zu rythmischen - er nennt es abgehacktem - Fahren nach innerer und äußerer Musik. Und denke gar nicht daran, das anders zu machen.
„Wie schaffe ich es denn dann, dass du dich änderst?“ fragt er mich. Da hatte ich auch einen guten Rat parat: „Erst wenn ich es selbst will, wird es funktionieren. Der Rest ist deine Kreativ-Arbeit.“ Seitdem ist er still.
Bürokratiemonster - zu rigide, um zu bleiben
So, und da sind wir wieder bei den Konzernprozessen. Sie sind eine Freiheitsberaubung par excellence - und schon deshalb darauf angelegt, Reaktanz auszulösen. Ihr Charakter ist rigide, autoritär. Man muss sich daranhalten, Punkt. . Agil? Lean?
Das sind Label, die bloß auf die Schauseite der Organisation geklebt werden. Da wo man für gewöhnlich die schicken Dinge präsentiert, während auf der Hinterbühne das echte Leben abgeht. Eben das, was die User mit den Prozessen erleben.
Ich gebe zu: 22 Jahre habe ich mich kaum mit lästigen Büro-Dingen beschäftigt. So lange hatte ich Assistenten und Assistentinnen, mindestens Werkstudenten. Seit kurzem erst mache ich wieder einige kleinere, handverlesene Sachen außerhalb meiner GmbH, als Freiberuflerin.
Ich kann und will diese Jobs nicht an unser Office abdrücken. Dass man sich Tage mit Angeboten und Rechnungen beschäftigen kann, habe ich aufgrund meiner menschlichen Pufferzonen nur aus der Ferne erlebt. Das macht meine Erfahrung jetzt unmittelbarer.
Und mein Gefühl für die Sinnlosigkeit von Tätigkeiten weniger abstrakt als es vorher war. Ich frage mich, wie es damit den Menschen im Büro geht… Und weiß natürlich: Einmal an der Leine, fühlt man Freiheit nicht mehr. Und es gibt ja die netten Kollegen. Dann ist der Inhalt der Arbeit weniger wichtig.
Ich vermute, dass man diesen Bürokratiewahnsinn nur mitmachen kann, wenn man sich einige Fragen gar nicht erst stellt.
Und so komme ich endlich zur Frage, mit der ich meine Kolumne überschrieben habe:
„Geht das wieder weg?“
Ich habe diese Frage in einem interessanten Podcast mit dem Wirtschaftshistoriker Prof. Clemens Skibicki bei, Arbeitsphilosophen Dirk Eilers gehört (Link im Kasten). Skibicki stellt sie Führungskräften, die Dinge wie diese denken:
Ach, Digitalisierung und KI - auch nur eine normale Managementherausforderung….
Social Media? Blödsinn für durchgeknallte Millenials.
4 Tage Woche? Wokes Hirngespinst… wir müssen mehr, nicht weniger arbeiten
usw.
Kurzum: Es geht um Leute, die beratungsresistent sind. „Geht das wieder weg?“ kann sich auf alles Mögliche beziehen, was man gerade nicht für wichtig hält, weil man seinem Bauchgefühl vertraut. Und das war ja immer richtig
Skibickis Frage ist deshalb so genial, weil sie das Wissen um Reaktanz beinhaltet. Ein Redner bekam kürzlich auf der Online Marketing Rockstars (OMR) heftigen Gegenwind als er sagte „eure Jobs hier sind nicht sicher“. Hätte er es spezifischer und fragender gemacht, vielleicht hätte es weniger Buhrufe gegeben…
Ich kenn das aus meiner frühen Zeit als HR Consultant: Die Leute glaube nie, dass sie ein Wandel selbst betreffen kann. Man kann Wahrheiten also nicht direkt aussprechen, erst recht nicht im gut gemeinten Rat verpackt, sich beruflich neu zu orientieren. Die Leute müssen selbst darauf kommen.
Man kann Wahrheiten nicht direkt aussprechen, die Leute müssen selbst darauf kommen. Svenja Hofert
Wenn ich frage, dann lasse ich dem anderen Autonomie. Das ist der Schlüssel. „Geht das wieder weg?“ scheint auf den ersten Blick nur Ja oder Nein zuzulassen. Doch der Trick ist, dass man bei beidem nie sicher sein kann. Im Idealfall regt das die Fantasie an.
Geht das Bürokratiemonster wieder weg, das mir da begegnet ist?
Statt einer Ja-/Nein-Antwort stelle ich mir vor, dass man bald einer KI sagen kann, was zu machen ist. Eine KI, die alle Prozesse verfolgt. Es kann nicht mehr weit weg sein.
Diese Woche las ich von einem KI-Sachbearbeiter-Vergleich: In der Stadt Jena hatte ChatGPT eine Anfrage der FDP zum „Digitalisierungstand 2-jährgier“ in 2 Stunden erstellt, die sonst 40 Stunden Arbeitszeit gekostet hätten.
KI geht nicht mehr weg
KI geht für mich nicht mehr weg. Es bringt nämlich mehr Freiheit als wir vielleicht zunächst annehmen wollen.
Mein neuer Assistent (m/w) ist ChatGPT geworden. Mit ihm habe ich kürzlich sogar eine Fallstudie erstellt. Man muss erfahren im Prompen sein und das Ergebnis muss nachgearbeitet werden, aber die Zeitersparnis ist enorm.
Ungefähr so wie im Beispiel der Stadt Jena. Und so wundert mich nicht dass es jetzt erste neue Jobs gibt wie den „Promping Engineer“. Die Propheten der MINT-Fraktion dagegen, die noch vor kurzem meinten, jeder soll programmieren lernen, könnten sich fundamental geirrt haben…
Autonomes Denken - wer beherrscht das schon?
Gefordert sind jetzt andere Fähigkeiten: Ich muss kreativ sein und kritisch nachprüfen können, dafür brauche ich mehr als nur ein fachliches Grundverständnis: Eine Menge autonomes Denken im Hirn. Ich muss kritisch lesen und hinterfragen können. Das wird die wahre Schwierigkeit. Die bisherige Bildung wird nicht reichen.
Und hier zum Hören :-)
PS: Der Start meines englischsprachigen Newsletters Mindshifting hat sich etwas verzögert.. Hoffe nächste Woche mit dem ersten Beitrag online zu sein. In Abgrenzung zum persönlichen Kolumnencharakter von “Weiterdenken” werde ich dort ganz konkret und praktisch über mentale Modelle schreiben.
Weiter: Lesen, Sehen & Hören
Audio-Tipp der Woche: “Aus der Geschichte lernen. Die Zukunft der Arbeit mal anders gedacht.” Frank Eilers hat hier einen hörenswerten Podcast mit dem Wirtschaftshistoriker Klemens Skibicki produziert. Eine Sicht die sonst zu kurz kommt. Dabei ist Geschichtswissen unendlich wichtig, u.a. auch, weil Zukunftsprognosen auch deshalb oft gründlich daneben gehen, weil wir missachten, was wir wissen könnten. hier.
Videotipp der Woche: “You don´t have free will” von der Physikerin Sabine Hossenfelder. Die Perspektive der Physik ist einfach megaspannend: hier
Buchtipp der Woche: “Agiler moderieren” von Claudia Thonet ist ein Buch für Menschen, die ihre Meetings mit agilen Methoden beleben wollen. Und nicht nur für Wasserfall-Umfelder. Im Vergleich zum auch von mir besprochenen und gelobten Buch “Facilitation” (auch Vahlen) ist es eine Nummer bescheidender (ganz ehrlich: Facilitation ist auch “nur” Moderation…) und passt deshalb für jedes Umfeld. Mir gefällt die Kombination aus ansprechender und nicht kitschiger oder überladener Visualisierung und Beispielen - das ist hier besonders gut gelungen. Findet ihr z.B. auch auf Amazon, mit Rezension von mir. Ja, wir kennen uns. Ich nehme mir aber immer auch die Freiheit, etwas einfach nicht zu besprechen, wenn ich nicht hinter meinen eigenen Worten stehen könnte :-)
Mein Beitrag über die Geschichte der Führung auf dem eigenen Blog kam sehr gut an: hier
Mein Buch “Mach dich frei” ist jetzt vorbestellbar.
Mein Video: Dieses Mal über gefährliche Mindsetmaschen:
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From Hierarchies to Ecosystems: Mit Emanuelle Quintarelli bin ich Keynote Speaker auf der Agile World in München. Thema “From Hierarchies to Ecosystems”. Hier findet ihr Infos. Wollt ihr dabei sein? Dann schreibt mich an. Ich schicke euch einen 10%Gutschein.
Wie organisieren wir uns zeitgemäß und postagil? Die Summer School New Organizing verbindet Ich-Entwicklung und systemische Ansätze mit der Metatheorie der Veränderung. Wir haben noch 2 Plätze im schönen Kattendorf. Hier findet ihr Infos zur Summer School Organisationsentwicklung.
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