Gefährliche Achtsamkeit
No. 47 Mindfulness und die Risiken einer allzu achtsamen Gesellschaft
No. 47 Mindfulness und die Risiken einer allzu achtsamen Gesellschaft
Manche Dinge tangieren mich nicht mehr. Ich kann abschalten. In Andalusien höre ich morgens den Vögeln beim Singen zu. Das ist meine Form der Meditation. Schlechte Nachrichten ziehen an mir vorbei wie Wolken. Ich mache meine Termine rund um das Morgen-Yoga am Strand. Das hätte ich früher wirklich nie getan.
Dies ist ein aktualisierter Beitrag. Die Nachrichten, die ich in der ersten Version eingebaut habe, sind nun schon keine mehr. Heute geht es um Israel und was uns im Nahen Osten und hier so alles droht. Ich merke, dass ich damit erschreckend gut umgehen kann. Es ist furchtbar, aber früher hätte es mir den Schlaf geraubt. Dass die Politik strauchelt, die Wirtschaft schwächelt, ein Krisenherd den anderen ansteckt… Es gibt diesen Gewöhnungseffekt, Resilienz und… Achtsamkeit.
Achtsamkeit frisst Ehrgeiz. Svenja Hofert
Meine Fähigkeit, achtsam mit mir selbst zu sein, wirkt positiv auf meine Gelassenheit. Ich gehe nicht mehr in die Luft, ärgere mich kaum noch. Gedanken kommen und gehen.
Nun hatte ich aber schon früher so einen bleibenden Gedanken, eine Hypothese: Achtsamkeit ist auch eine Fähigkeit. Und sie wirkt negativ auf meinen Ehrgeiz. Wer achtsam ist, ist auch unabhängiger. Lässt sich nicht so treiben. Muss nicht allen gerecht werden.
Und da fällt mir “Grit” ein. Grit ist ein psychologisches Phänomen und gilt als Treibstoff, sich reinzuhängen und beste Leistungen zu erzielen. Grit ist wichtig für unsere Gesellschaft. Grit kann man auch statistisch erheben. Mein Grit war mal überdurchschnittlich hoch. Ich habe zwei Jahrzehnte hart gearbeitet und meine Prioritäten in der Arbeit gesetzt. Das ist nicht mehr so. Bestimmt ist es auch das Alter. Fehlende finanzielle Zwänge. Ich-Entwicklung. Es ist nicht nur Achtsamkeit. Aber sie spielt eine Rolle.
Grit sorgt für Höchstleistungen - aber nicht unbedingt für Achtsamkeit
Falls ihr dieses ominöse „Grit“ noch nicht kennt: Es ist das, was Menschen jenseits des Talents erfolgreich macht. Das Talent wird nämlich überschätzt, ebenso der IQ. Mich umgeben einige Mensa-Mitglieder, ich weiß wovon ich spreche. Wenn sie kein Grit haben, sind sie für die Arbeitswelt verloren.
Grit dagegen sorgt für Höchstleistungen. Einen Link und Buchtipp dazu findet ihr im Service-Kasten.
Elon Musk in achtsam ist… kein Musk mehr. Svenja Hofert
Zurück zur Achtsamkeit. Ich stellte mir einen achtsamen Elon Musk vor, der stundenlang wie ich den Vögeln beim Zwitschern zuhört und Business-Anrufe ignoriert.
Der die Priorität bei seinen Lieben zuhause setzt und nicht bei Weltraumflügen. Falls ihr jetzt wissen wollt, was Elon in Sachen Achtsamkeit wirklich macht, verlinke ich euch einen Artikel mit der Lösung. Bis dahin: Ratet mal. Geniale Menschen sind nicht achtsam, wenn sie etwas und die Welt bringen wollen. Sie sind nicht die Fliege an der Wand, die sich entspannt anschaut, was da so um so herum passiert. Sie sind 100% Action, no Reflection. Jedenfalls über gewisse Dinge nicht. Die, die sie betreffen.
Das Geschäft und den Standort retten – geht wohl kaum in achtsam
Falls euch Musk zu abgefahren ist, fällt mir auch noch ein normaleres Beispiel ein: Die Top-Managerin, die gerade die Digitalisierung ihres Konzerns vorantreibt und zu verhindern sucht, dass der Standort Deutschland ins Ausland verlagert wird. Sie müht sich, mit der Calm-App etwas abzuschalten, aber so richtig achtsam wäre kontraproduktiv für das Geschäft. Stellt euch vor, sie bevorzugt Yoga am Strand - auch außerhalb von Urlaub.
Und just in dem Moment als mir wieder deutlich wurde, wie vielschichtig Achtsamkeit ist, fiel mir die Studie des Psychologen Simon Schindler in die Hand. Sie ist 2019 erschienen, aber jetzt erst hat der Human Resources Manager (HRM) darüber berichtet. Und jetzt, wo ich dies aktualisiere, ist das Thema auch im Spiegel gelandet.
Im Podcast, den ich euch unter dem Beitrag verlinke, erzählte Simon mir, wie er auf seine Hypothese gekommen ist. Da könnt ihr schon mal neugierig sein – wie auch auf sehr interessante weitere Gedanken des Sozialpsychologen. Sie führen uns bis hin zur kumulierten Achtsamkeit für die ganze Welt.
Als wir gesprochen haben, spielte der Krieg in Nahost noch keine Rolle. Aber heute frage ich mich ernsthaft, wie und ob man achtsam Kriege führen kann.
Weniger Leid, mehr Distanz – auch beim Kündigen?
Also, zu den Risiken von Achtsamkeit. Die “HRM”-Redaktion formulierte die These, dass Achtsamkeit dazu führen könnte, dass man in der Arbeitswelt tiefenentspannt selbst dann bleibt, wenn kritische Themen tangiert sind. Was wenn Führungskräfte ihre Mitarbeiter kündigen und sie weniger mitleiden würden? Ich spinne mal weiter: Was wenn sich für mich das Streiten um die Sache nicht mehr lohnt? Wenn mich Konflikte so wenig berühren, dass ich auch ohne Klärung gut leben kann. Mein Gegenüber aber vielleicht nicht?
Mir fallen Menschen ein, die in sozialen Berufen aufgehen. Sie sind meist nicht sonderlich achtsam zu sich. Und wenn sie es werden würden, dann würden sie kündigen oder Forderungen stellen oder erst Forderungen stellen und dann kündigen, wenn diese nicht erfüllt werden. Die Forderung nach der 4-Tage-Woche ist ziemlich achtsam - aber ein Horror für die Wirtschaft.
Trait und State Achtsamkeit unterscheiden
Die Psychologie unterscheidet den „Trait“ Achtsamkeit vom „State“. Als Eigenschaft ist Achtsamkeit die Fähigkeit, sich selbst wahrzunehmen. Den Trait kann man testen, etwa mit der „Five Facets Mindfulness Scale“, die ich im Service-Kasten verlinke. Da steht zum Beispiel „ich bin gut darin, meine Gefühle zu beschreiben.“ Oder auch: „Ich kann meine Gefühle wahrnehmen, ohne darauf reagieren zu müssen.“
Bewusste Entscheidungen statt Tretmühlentritte
Das Buch “Das Kind in dir will achtsam morden” habe ich zwar noch nicht gelesen, aber der Titel spricht schon Bände. Das eigene Handeln wird, wenn man achtsam ist, bewusstes Handeln. Entscheiden wird bewusstes Entscheiden. Die Reflektivität, also die Summe der Reflexionserfahrungen, steigt.
Es gibt noch einen weiteren Aspekt: Achtsame Menschen leben in der Gegenwart. Die Zukunft wird weniger wichtig, weil wir ja auf das Jetzt fokussiert sind. Die Welt verändern aber die grit-tigen Zukunftsmenschen. Wer sich mit Ich-Entwicklung auskennt weiß: Das sind wahrscheinlicher Effektiv-Phasen-Leute (bei Loevinger E6), weniger die Postkonventionellen. Das ist auch ein häufiger Irrtum derjenigen, die das Modell in den Mainstream tragen. Und sagt uns auch: Wenn wir Zukunftsgestalterinnen mit Vision suchen, dann sollten diese besser nicht zu achtsam sein…(sonst sind sie gerade auf einem Retreat ;-))
Zukunftsflucht hat auch eine Funktion
Es gibt noch einen weiteren Aspekt, der der Achtsamkeit den ausschließlich positiven Zauber nimmt: Nicht jeder kommt mit der Gegenwart zurecht. Denn Zukunftsflucht hat auch eine Funktion: Wir müssen uns dann eben nicht mit der Gegenwart beschäftigen. Nicht ohne Grund ist es manchmal auch eine Entscheidung, sich jetzt NICHT mit bestimmten Themen zu beschäftigen, da sie die Lebensbalance tangieren. Da denke ich an liebe Menschen, die nach 5 Tagen Dauermeditation Haus und Hof verließen….
Mir fällt auch die Biografie des Musikers Avicii ein, die mich sehr berührt hat.
Avicii hat sich nach exzessiver Mediation umgebracht. Denn Meditation führt nicht automatisch dazu, sich mehr mit anderen Menschen zu beschäftigen. Wer lernt, in die Tiefen seines Selbst zu tauchen, kann sich dadurch nicht immer besser von sich selbst abgrenzen. Manchmal verschmilzt man im Gegenteil auch total, mit was auch immer.
Und so ist auch die Achtsamkeit ein Beispiel dafür, wie wichtig eine differenzierte Betrachtung ist.
Was einerseits gesund ist, kann andrerseits unter bestimmten Bedingungen und bei falscher Anwendung auch gefährlich werden.
Die kumulierte Wirkung ist mehr als fraglich
Und dann sind da noch diese feinen Facetten: Manchmal ist etwas für den Menschen selbst gut, aber die kumulierte Wirkung auf die Gesellschaft ist fraglich. Wenn alle achtsam wären, maximal 4 Tage arbeiten würden, sich da auch nicht mehr so reinhängen, kann das ganz neue Energien freisetzen – aber für das Wirtschaftswachstum sehe ich schwarz.
Und wir sind nunmal nicht auf einer selbstversorgenden Insel, sondern eingebettet in eine globale Welt. Wenn in anderen Regionen der Welt sich Menschen reinhängen, hier aber nicht, werden wir das neue Griechenland (Update: das sind wir vielleicht schon).
In meinen 25 Jahren als Coach habe ich das oft so erlebt: Wenn sich die Menschen mit sich beschäftigen, befreien sie sich am Ende auch aus dem bisherigen Denken. Das kann zu viel mehr individueller Wirksamkeit führen. Aber auch zum Loslassen von Zwängen, von denen die Wirtschaft und unser Sozialsystem lebt. Das führt dann zu immer mehr Leuten, die sich als Coach selbstständig machen und zu fragwürdigen Auswüchsen in der Branche… Denn Achtsamkeit ist auch ein Wirtschaftsfaktor.
Es hat mehr als zwei Seiten, es hat 100te
Am Ende ist es so, wie bei vielen Dingen: Alles hat nicht mehr nur zwei Seiten, gut und böse, nützlich und gefährlich, sondern sieht aus jeder Perspektive anders aus.
Was das für uns bedeuten kann, darüber spreche ich im Podcast, den ich hier verlinkt habe.
Eure Svenja Hofert
Weiter: Lesen, Sehen & Hören
Die Auflösung: Das macht Elon Musk, wenn er runterkommen möchte: Videospiele, mehr
Das Five Facet Mindfulness Questionnaire (FFMQ) testet den Trait Achtsamkeit. Hier herunterladen.
Talent? Von wegen. Es ist harte Arbeit, die erfolgreich macht. “Grit” geht auf die Forschungen von Angela Duckworth zurück: Grit: The Power of Passion and Perseverance. Im Buch findet ihr auch einen. Fragebogen. Es gibt die Grit-Scale auch offen hier.
Mein Buch “Mach dich frei” ist jetzt vorbestellbar.
“Seid achtsam mit der Achtsamkeit” habe ich schon letztes Mal verlinkt. Mehr dazu im Human Resources Manager.
In meinem neuesten Video vertiefe ich das Thema Überzeugungen. Ein achtsamer Umgang kann im Übrigen helfen, Überzeugungen loszulassen…
Offene Termine
Wer sich intensiv und achtsam mit Ich-Entwicklung in seiner Praxis als Berater, Coach oder Moderator auseinandersetzen möchte, der kann dies bei Nextlevel im April 2024 auf Gut Kattendorf tun. Bitte rechtzeitig voranmelden!
Meine Masterclass Mindshift behandelt diese Themen ebenso. Sie ist am 16.10.23 gestartet. Schreibt mich bitte an, wenn ihr beim nächsten Durchlauf dabei sein wollt.
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Beitragsfoto: istock - Peopleimages
Hallo Frau Hofert, mir ist diese Negativzeichnung von Achtsamkeit zwar verständlich, weil der Newsletter ja irgendwie griffig sein muss, ich finde die dargestellten Punkte jedoch zu einseitig. Es gibt Welttraditionen, welche seit mehreren tausend Jahren Achtsamkeit als Kern praktizieren , und diese sind nicht ausgestorben weil sich alle umgebracht haben. Wie mit bei allen Dingen bedarf es einer Balance oder eines mittleren Weges wie die Buddhisten sagen. Wie so häufig gibt es auch hier Übertreibungen oder ein falsches Verständnis. So gesehen verstehe ich Ihren Artikel auch als Mahnung. Jedoch nicht dafür weniger achtsam zu sein, sondern eher mehr. Mehr achtsam mit der eigenen Menschlichkeit. Distanz zu Dingen wie zu Kündigungen von Mitarbeitern ist für mich eben keine Achtsamkeit, es ist Leugnung und Ignoranz. Achtsamkeit alleine ist nicht genug, sondern es braucht dazu noch eine Ethik, die unser Handeln leitet.
Wenn Menschen aus Achtsamkeit untragbare Situationen verlassen, wie in der Pflege, dann sollten dies kein Plädoyer für weniger Achtsamkeit sondern für eine Verbesserung der Pflege sein, denn man erkennt ja dass da was nicht stimmt, im System.
Zudem widersprechen Sie sich, wenn sie von Achtsamkeit bei Führungskräften und Kündigungen sprechen und beim Verlassen von Arbeitssituationen wie in der Pflege. Ersteres ist bewusstes Verdrängen, zweites eben nicht mehr.