Warum wir postkonventionelles Denken brauchen
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021: Faule Kompromisse und schlaue Lösungen
„Wer Gespenster im Kopf hat, kann keine Probleme lösen“. Harald Martenstein
Derselbe Sachverhalt kann sich aus verschiedenen Perspektiven sehr unterschiedlich darstellen. Das liegt an der großen Bandbreite von Wahrheit. Aber auch an unserer Tendenz, aus dem großen Angebot an Wahrheit genau das Körnchen herauszupicken, das am besten in den eigenen Film passt – und sich die Wahrheit entsprechend eigener Präferenzen zurechtzubiegen. Bei so vielen Wahrheiten, ist der faule Kompromiss oft die einzige Chance zu handeln.
Die Grenze zwischen Wahrheit, Interesse und Ideologie verfließen dabei zunehmend. Hinzu kommt die menschliche Fähigkeit zur individuellen Verkürzung, subjektiven Auswahl, freien Interpretation und kunstvollen Verdrängung. Alles ohne Frage Kulturtechniken, die künstliche Intelligenz nicht beherrscht. Alles ohne Frage aber auch Verhinderer von schlauen Lösungen.
Wie kommt man zu Lösungen, wenn nichts wahr ist?
Wobei sich als die Frage stellt, wie man zu schlauen Lösungen kommt, die der erheblichen Zunahme von Komplexität gerecht wird. Da „Wahrheit die Erfindung eines Lügners“ ist, wie es der Philosoph und Physiker Heinz von Förster formuliert hat, ist das Ringen um den kleinsten gemeinsamen Nenner der am meisten verbreitete Lösungsansatz.
Auch wenn dieser am Ende keine Wahrheit beinhaltet, die der näheren Überprüfung standhält. Womit dann klar ist: Um Wahrheit geht es bei der Lösungsfindung à la gemeinsamer Nenner gewöhnlich nicht, eher um Rechthaben und Ränkespiele. Welche nicht nur menschliche Denksysteme, sondern auch die derzeitigen hierarchischen Systeme kräftig stützen und erhalten.
Deckmäntel für Wahrheit
Jeder will beteiligt sein und seine Interessen einbringen. Und in letzter Zeit kommt da auch noch die ganze Ideologie dazu.
Symptomatisch war Robert Habecks Auftritt bei Maischberger in dieser Woche. Sachlich lag Habeck nicht völlig daneben. In der Tat können Unternehmen aushungern, ohne dass sie insolvent im rechtlichen Sinne gehen. Allein schon, weil nicht jeder Kleinbetrieb eine GmbH ist.
Aber an diesem Beispiel sehen wir sehr prägnant: Um Wahrheit geht es bei komplexen Fragestellungen nie.
Es geht um etwas anderes, das sich in den emotionalen Reaktionen verstärkt: Gerechtigkeit oder vielmehr Ungerechtigkeit. Also um eine Tugend. Tugenden können die Brücke zwischen faulen Kompromissen und schlauen Lösungen schlagen. Sie könnten dem wahrheitssuchenden Entscheidenden eine Orientierung geben, indem sie im eigenen Denksystem immer mitlaufen.
„Was ist gerecht?“
Es wäre besser angekommen, wenn er diese Frage gestellt hätte. Und zugegeben hätte, dass er nach einer Antwort sucht und diese nicht hat.
Ein Gefühl als geteilte Wahrheit
Schlaue Lösungen benötigen einen kollektiven Blick auf das Erschaffens- und Bewahrenswerte, auf Tugenden. Sie verlangen von den Lösenden einen Zugang zu den vorhandenen Varianten von Wahrheit - und eine Vorstellung von gemeinsamer Zukunft. Die Frage ist also nicht nur „Was ist wahr?“, sondern auch „Was ist uns wichtig?“ – und wie können wir gemeinsame Kriterien für Wichtigkeit trotz großer Unterschiede entwickeln?
Das kann nur gelingen, wenn wir erkennen, was Menschen am meisten verbindet und am meisten spaltet. Aus meiner Sicht ist es nie eine Sache, sondern immer ein Gefühl – im Habeck-Fall ein Gefühl von Ungerechtigkeit und Schieflage.
Lösungen jenseits der Konventionen
Der Moralpsychologe Lawrence Kohlberg hat die Fähigkeit, Lösungen jenseits geltender Konventionen zu finden, einst als postkonventionelles Denken bezeichnet. Einerseits ist dies ein Denken, das Erkenntnisprozesse in den Vordergrund stellt - und nicht (vermeintliche) Wahrheiten: Woher wissen wir, was wahr ist? Wie erkennen wir, was richtig für uns ist? Woran orientieren wir uns?
Unsere bisherige Art, Antworten zu finden und daraus Lösungen zu generieren ist nicht mehr zeitgemäß. Sie stellt den Inhalt in den Mittelpunkt, auch wenn es um diesen gar nicht geht. Und sie stärkt eine fatale Erwartungshaltung: Die nach grandiosen Lösungen aus der Hand von Individuen, seien es Politiker oder Unternehmenslenker. Das ist Heldensuche wie in der Antike. In unserer Zeit an sich verrückt. Oder doch nicht? Es fehlen Orientierungen, also schafft man sich wokes Denken.
„Ich weiß, dass ich nichts weiß“ sollte aktueller denn je sein
Es ist nicht alles verloren. Wir könnten Faustregeln schaffen, die die Vorgehensweisen betreffen, durch die Erkenntnisse und Entscheidungen in Gruppen und Kollektiven generiert werden. Die Pflicht zur Beratung durch Experten, die ein breites Meinungsspektrum abdecken, kann dazu gehören. Eine Orientierung an Tugenden würde helfen ebenso wie Prozesshaftigkeit.
Diese Woche habe ich mit einer Gruppe ein Feedforward gemacht. Dabei stellt eine Person, Dutzenden anderen immer dieselbe Frage. Die Antworten werden nicht diskutiert, nicht in Frage gestellt, nicht abgewiegelt. Es entsteht eine Vielfalt und ein breites Spektrum. Das eigene Bewusstsein für Lösungen weitet sich. Man sieht Aspekte, die man noch nie gesehen hat.
Der Blick auf das Spektrum von Wahrheit und auf große Ganze muss institutionalisiert sein. Risiken dürfen nicht nur aus der Perspektive eines Ressorts betrachtet werden. Die kluge Lösung entsteht nicht im Hinterzimmer und im Kopf der einen Person. Deshalb müssen aufhören, einerseits Narzissten zu beschimpfen und andrerseits Grandiosität in einzelnen Personen zu suchen. Wir können Lösungen auch jenseits der Fähigkeiten des Einzelnen entstehen lassen.
So kann postkonventionelles Denken auch da entstehen, wo die Einzelnen in ihren Konventionen gefangen sind.
PS: Aufgrund von Krankheit ist in meinem seit Monaten ausgebuchten Kurs “Psychologie der Veränderung” 19.21.9. in Hamburg ein Platz frei geworden. Bitte wendet euch an Christina Glaser von Teamworks (glaser@teamworks-gmbh.de).
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In diesem Video geht es um Ich-Entwicklung, auch diese tangiert postkonventionelles Denken. Bei Youtube kommt Dienstag ein Lehrvideo über Postkonventionalität.
Viele Ideen,, auch für Gruppen sind auch in meinem bei Campus erschienenen Buch “Mindshift. Mach dich fit für die Arbeitswelt von morgen” zu finden.
Einen Beitrag über Postkonventionalität und Ich-Entwicklung findet ihr in meinem Blog.
Inspiriert hat mich diese Woche
Mein Sohn, der die Welt oft positiver sieht als ich und mir seine Wahrheit entgegenhält. So wie ich geprägt bin von Freud und Alice Miller, so ist er es durch den Philosophen Rutger Bregmann. Lasst euch prägen"!
Menschen, die nicht viele Worte machen müssen, um tief zu verstehen.
Harald Martenstein: Er schreibt einfach tolle Texte.
Termine
Am 2.12. halte ich auf dem internationalen Management-3.0 -Kongress eine Keynote (Hybrid): “Connecting Rots”. Hier könnt ihr euch anmelden.
Alle Teamworks-Termine.
Mir folgen? Na klar:
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