No. 42: Die Wahrheit über Agilität, Kollektive und Skalierbarkeit
„Offen gesagt, stehe ich nicht zu diesen agilen Ideen. Aber sie sind nützlich für meine Karriere.“
Lange bin ich gar nicht auf die Idee gekommen, dass Agilität ein so hochgradig karriererelevantes Thema ist. Bis mich dieser Fakt immer öfter ansprang: Die erfolgsorientierte Erwähnung einer „agilen Transformation“ erwies sich als zentrales Verkaufsargument im Lebenslauf. Dass es bei der Personalauswahl eine Zertifikate-Jagd gibt, war mir natürlich bekannt. Doch das Wort mit dem „A“ verteuert den Boden auch in der zertifikatsarmen Zone, in den Erfolgslebensläufen von Managern.
“I made it agile” - and you?
Unternehmen wollen Erfolgsrezepte für die „agile Transformation“ oder auch „digitale Transformation“ – wer kann den Unterschied noch ziehen - einkaufen. In der Art der 2000er- Aussage „I doubled profit“. Etwas „Agiles“ oder sonstwie Transformierendes transformiert auch die Erfolgsaussichten. Selbst, wenn man wie der anonyme Zitatgeber, von den Ideen nichts hält. Man muss auch Pivot-Tabellen nicht mögen, um zu lernen, sie zu erstellen.
Eine Transformation ist ein ganz, ganz dickes Brett. Für das Dünnbrettbohren nicht reicht. Svenja Hofert
Vielleicht entwickelte die Zitatgeberin die Distanz zum Thema aus gutem Grund. Denn eine organisationale Formänderung, und nichts anderes ist eine Transformation, ist ein dickes Brett, für das Dünnbrettbohren nicht reicht. Dass ein Konzeptwechsel gelungen ist, lässt sich nur schwer nachweisen und wenn, dann nach langer Zeit. Dann, wenn einem Unternehmen viel gelungen ist, woran es zuvor gescheitert ist. Das kann man derzeit über Microsoft sagen, vielleicht auch über Ely Lilly, den Börsenstar.
Erfolgreich mit Scheinkorrelationen
In den meisten Fällen wird Ursache und Wirkung in einen falschen Zusammenhang gebracht. Es ist dann eine Scheinkorrelation. Doch auch die wirken - in Lebensläufen.
Eine solche Scheinkorrelation wird gern auch in Zusammenhang zwischen Mindset und Agilität gezogen, weshalb das motivationale Einwirken auf Verhaltensänderung sehr beliebt ist. Dies wird in Deutschland traditionell allerdings anders interpretiert als im amerikanischen Sprachraum. Während man hier denkt, „was ist richtig?“, denkt man dort „wie mache ich es erfolgreich?“
Mit letzterem einher geht die wichtigste Management-Frage: „Ist es skalierbar?“ Und damit meint man nicht Skalierung im Sinne des systemischen Coachings von 0 bis 10 oder 1 bis 10, sondern ein unternehmerisches Hochskalieren, Scaling-Up.
Der Kern ist einfach nur… lean
Dieses Hochskalieren braucht Messbarkeit. Skalierbare Erfolgsrezepte entstehen durchweg in „Mediocristan“, um ein mentales Modell von Nassim Taleb zu verwenden, das ich sehr passend finde. Sie wachsen in einem Gebiet, das sich berechnen lässt. Einem Gebiet, in welchem Glockenkurven funktionieren und Durchschnitte scheinbare Normalität suggerieren.
Unwägsames Gelände, Extremistan folgt dagegen anderen Gesetzen. Dort gibt es eine Kette von Zufällen, ungleiche Kräfte und etwas, das vorher unbestimmbar alles andere beeinflusst. Extremistan beherrscht man nicht, man erkundet es. Selbst die besten Talente können hier scheitern, Rezepte versagen sowieso. Soziale Dynamiken - und hier liegt der große „Schatten“ der Managementlehren -, spielen sich in Extremistan ab. Sie sind deshalb schlicht nicht skalierbar. Dennoch versuchen sich viele daran.
Menschen skalieren ist ein unmögliches Unterfangen. Svenja Hofert
Fast alle Bestseller vermitteln uns dagegen die Idee, das man Konzepte mit Menschen skalieren könne. Das gefeierter Konzept der „Team of Teams“ etwa, das aus dem Militärischen stammt. Oder die immer weder gern herangezogenen Sportbeispiele. Der Mensch als Schwarmteam - das muss es sein, dass Geheimrezept! Also treibt man Kollektivismus voran, in den Unternehmen auch Teamarbeit genannt. Selbst Teamentwicklung soll neuerdings skaliert werden. Absurd.
Gerade habe ich ein Interview für die „dpa“ gemacht. Darin ging es darum, ob der Trend zur allseits hochgepriesenen Teamorientierung wirklich ernst gemeint sei. Ich hoffe – nein. Etwas anderes wird gebraucht: Die Fähigkeit sich im Extremistan sozialer Gefüge angemessen zu bewegen, ohne Rezepte und Dünnbrettbohren. Also Schachspielen statt Checkliste.
Zielerreichung ist ein Schachspiel und keine Checkliste.
Wer Agilität versteht, muss es vom Ergebnis her denken. Und begreifen, dass das das Ende des pauschalen Entweder-Oders und des extremen Sowohl-als-Auchs begründet. Der skalierbare Teil läuft auf „Lean“ hinaus, schlanke Prozesse ohne Verschwendung sind Mediocristan. Die neuen Formen des Organisierens lassen aber kein Verstecken zu. Und deshalb produzieren sie Extremistan. Und genau deshalb haben sie sich immer noch nicht durchgesetzt.
Denn ein Erfolg unter Ungewissheit funktioniert eher wie ein Schachspiel und nicht über eine Checkliste. Was Lebenslaufeinkäuferinnen meist ausblenden, denn auch sie wollen Unsicherheit vermeiden - und “datenbasiert” entscheiden. Selbst in Extremistan. Für dessen Beherrschen wiederum suchen sie nach Rezepten - und landen beim Team.
Kollektive brauchen Führung
Kollektivismus ist allerdings denkbar ungeeignet, disruptiv kreativen und unternehmerischen Erfolg hervorzubringen. Das Kollektiv muss danach streben, den Einzelnen zu beschneiden. Es kann keine Gleichzeitigkeit von gegensätzlichen Werten geben, nur eine Rangordnung. Um eine (neue) Sache gegen Widerstand durchzusetzen, muss Macht gebunden werden. Auf Freiwilligkeit kann bei Veränderungen niemand hoffen - da brauchen wir nur nach Frankreich zu schauen.
Ich schreibe dies aus Taiwan und stelle mir vor, wie wir so ein geniales Metrosystem nach Deutschland bringen könnten. Im Kollektivprozess? Never. Klar braucht es immer mehrere Leute. Aber entscheiden muss einer. Accountable ist nicht Responsible ist nicht Authority, also Entscheidungsgewalt. Das sogenannte RAKI-Modell, das ich im Zusatzcontent nächste Woche im Podcast erkläre, wird oft zu undifferenziert genutzt. Selbst sozial etikettierte und gefeierte Unternehmer wie Yvon Chouinard von Patagonia treffen ihre Entscheidungen kraft ihrer Autorität.
Team bedeutet nicht Gleichheit
Was kaum jemand sehen will: Der Mensch ist Einzelkämpfer und Herdentier zugleich. Der eine ist mehr dies, der andere mehr das, auch situativ und lebensphasenbedingt lassen sich Unterschiede feststellen.
Er ist damit das einzige Säugetier, das nicht eindeutig zuzuordnen ist. Sie kann ihre Herde wählen. Sie kann gehen oder bleiben. Teams, und das ist ein großes Missverständnis, sind Gebilde, die diese Unterschiede ausprägen - Kollektivismus und Individualismus zugleich.
Erfolg ist die Fähigkeit zur Bündelung sozialer Kräfte - wie auch immer. Svenja Hofert
Ein Team existiert durch die Bündelung von ungleichen Kräften hinsichtlich eines Ziels. Neue „Herden“ (Teams) gründen sich, indem jemand sie auf weiter entfernt liegende Wiesen führt, deren Fruchbarkeit sich erst noch erweisen muss. Der Erfolg liegt also nicht in der Anwendung eines Konzepts, sondern in der Fähigkeit zur Bündelung von Kräften unter Unsicherheit.
„Meinst du, es macht Sinn, das Agile noch zu lernen, wo es jetzt ja schon wieder um andere Themen geht“, wurde ich neulich gefragt. Ja, habe ich gesagt, denn du solltest verstehen, was da passiert. Nur dann kannst du sehen, was in Mediocristan liegt und was Extremistan ist. Nur dann kannst du entscheiden, ein Rezept NICHT anzuwenden. Und anfangen, Schach zu spielen. Checklisten gibt es genug.
Hier der Beitrag als Podcast mit 5 Bonustipps ab Minute 8:54
Neu: Die überraschende Statistik
Glaubst du, Menschen in kollektivistischen Kulturen sind weniger einsam? Eine etwas ältere Statistik legt nah, dass die individualistischen Kulturen weniger einsam machen. Denn der Zwang, sich unterzuordnen kann ordentlich stressen, wie mir auch mein Taiwanesische Guide erzählte, ein Entwickler. Er hat sich selbstständig gemacht, um dem Zwang zu entgehen, auf der Arbeit immer warten zu müssen, bis der älteres Mitarbeiter geht. Die Statistik “Are people more likely to be lonley in so-called Individualistin countries” bei Our World in Data hier.
Weiter: Lesen, Sehen & Hören
Nassim Nicholas Taleb: Der Schwarze Schwan, aus als Hörbuch.
Inspiriert hat mich diese Woche
Der Podcast “Ich Wir Alle”, Folge 140 mit Susanne Cook-Greuter. Sehr lang, sehr hörenswert, vor allem für entwicklungspsychologisch interessierte Menschen. Hier
Offene Termine
Business Talk mit mir und Dr. Martin Ebeling in der School of Life, hier anmelden
Wir freuen uns sehr auf Teilnehmerinnen für TeamworksPLUS Gruppe 15. Wir formieren uns jetzt. Seid ihr dabei? Info
Da Psychologie der Veränderung im Februar mal wieder ausgebucht ist, habe ich einen Ersatztermin für April eingestellt
Fortgeschrittene: Meldet euch jetzt schon für meine Summer School Organisationsentwicklung und die Masterclass Nextlevelcoaching im Herbst an,
Alle Teamworks-Termine.
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Nächste TeamworksPLUS-Gruppe startet am 30.3.23. Seid ihr dabei?
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Foto von Andrea Piacquadio: https://www.pexels.com/de-de/foto/mann-im-schwarzen-anzug-der-auf-stuhl-neben-gebauden-sitzt-3778966/