Die wahre künstliche Intelligenz (nicht, was du denkst)
No. 69: Unser Abstieg vom Mount Stupid
No. 69 Abstieg vom Mount Stupid
Ich habe mich grundlegend geirrt.
Wie alle, die keine Ahnung haben, dachte auch ich, KI würde nie so kreativ werden können wie wir Menschen. Oder halt: War es doch eher Selbstschutz? Wer mag sich schon eingestehen, dass eine KI in fünf Sekunden schafft, was man sich in Jahren hart erarbeitet hat….
„Kreativität ist menschliches Hoheitsgebiet“, behaupteten noch vor kurzem Zukunftsforscher und Bildungsexperten. Ich wollte ihnen gerne glauben. Eine künstliche Intelligenz könne ja nur auf das zurückgreifen, was Menschen schon geschaffen haben. Noch in meinem Buch „Mindshift. Mach dich fit für die Arbeitswelt von morgen“ vertrat ich diese These. Das war 2019.
Es ist nicht, was du denkst
Wahrscheinlich nutzt du den Textgenerator von ChatGPT. Im November 23 tat das laut Frankfurter Allgemeine jeder dritte Deutsche. Ich gehe mal davon aus, dass ich in meinem Newsletter eher die Firstmover abhole und die Quote höher ist….
Kollegen nutzen das Programm etwa, um Fragen zu stellen, zu übersetzen, für Seminarscripte und Fachaufsätze vorzuschreiben. Als eine Art Schreibmaschine, die Buchwissen on demand in Sekunden ausspuckt. Gut, hilfreich und schon jetzt unentbehrlich. Aber…
Was mich demütig werden lässt, ist etwas ganz anderes: Es ist das, was KI in Bild und Bewegtbild schaffen kann. Denn hier ist viel deutlicher ein kreatives Denken sichtbar, das Strukturen aufzubrechen vermag. Die wahre kreative Kunst ist nicht die Konstruktion, sondern ihr Gegenteil - das Dekonstruieren. Das ist zugleich auch das respektlose Auseinandernehmen, das Brechen von dem, was menschengeschaffen ist. Bei Worten ist ihm das Brechen von Konventionen “von oben” (Entwickler) untersagt: Er flucht nicht, stellt nichts in Frage und ist sowohl politisch als auch ethisch korrekt.
Konventionelle Ketten gegen Originalität
Er ist sprachlich an konventionelle Ketten gelegt.
Konventionalität oder auch Postkonventionalität der Sprache wird z.B. mit dem Ich-Entwicklungsprofil (IE-Profil oder Stages) gemessen. Diverse Experimente in meinem Umfeld zeigen, dass ChatGPT 4 mit sehr viel Prompting-Aufwand eine Antwort auf “E7”, einer frühen postkonventionellen Stufe, erreicht werden kann.
Originalität aber ist ein Kennzeichen des postkonventionellen Denkens, das nicht mit unkoventionell verwechselt werden darf. Unkonventionell ist auch ein Nasenring, es ist aber nicht postkonventionell. Postkonventionalität bedeutet, dass man über die bisherigen Konventionen denkt und sie dadurch neu schaffen kann.
Fehlt Postkonventionalität in Texten, fehlt denen auch die denkerische Höhe. Oder anders gesagt: Kafka wird KI so jedenfalls nicht. Weil Kafka sich auch nicht wiederholen würde.
Text-zu-Bild oder Text-zu-Video-KI ist duch ebendiese Einschränkungen auch eingeschränkt - und ist doch zugleich ohne das Sprachgerüst freier in der Interpretation.
Die Programmierer verbieten nicht in Fantasiewelten zu tauchen. Somit ist Bild eher zur Dekonstruktion in der Lage. Mit dieser haben wir Menschen aber erhebliche Schwierigkeiten, weil wir unsere gängigen Formen nicht aufbrechen können. Es ginge an unsere Identität. Wir fühlen Zusammenhänge und leiden, wenn sie verloren gehen.
Selbst uns selbst können wir nur zusammenhängend betrachten und nicht etwa fragmental. Svenja Hofert
Der erste, komplett AI-generierte Film „Frost“ aus dem Jahr 2023 zeigt, bewegt sich noch in den bekannten Formen. Dass, was mir Jens Hollmann und Heinz Brasch in ihrem Kurs über “Adaptive KI im Coaching” diese Woche gezeigt haben, geht darüber hinaus. Schau es dir an, bevor du weiter liest:
Meine erste Reaktion war: “KI auf LSD”. Und deine?
Auch Bilder und Filme entstehen auf der Basis von Text. Dall-e ist Teil von ChatGPT. Man könnte also die These haben, dass es auf den Prompt und den Prompting Engineer ankommt. Meine Experimente mit Dall-e zeigen aber oft bessere Ergebnisse bei freier Interpretation. Die spannenderen Ergebnisse entstehen zufällig.
Letztes Jahr hat KI zwei Mal in internationalen Fotowettbewerben gewonnen, ohne dass jemand wusste, dass es KI war. Wie fantasievoll KI-generierte Bilder sein können, zeigt auch die aktuelle Ausgabe des Harvard Business Managers “Feels like magic”. In ihr sind auch die Prompts zu den beeindruckenden Midjourney Bildern veröffentlicht (Links am Beitragsende).
KI wird für die Dinge verwendet, die abgeschafft gehören
Und jetzt komme ich zu meiner eigentlichen Hypothese: Nur sehr wenige Organisationen und Führungskräfte erkennen das wirkliche Potenzial in der KI, das nicht in der Wiederholung von Vorhandenem liegt - sondern in der Zerstörung von Überflüssigem. Das aber ist Voraussetzung für Neuschöpfung.
Die meisten nutzen KI für Dinge, die abgeschafft werden müssen, weil sie durch KI überflüssig werden. Und das ist dann im wahren Sinn künstliche Intelligenz. Das Ergebnis sind Plastik-Texte.
KI wird für Dinge genutzt, die KI überflüssig macht. Nutzen wir sie für Überflüssiges, erzeugen wir Plastik-Texte. Svenja Hofert
Beispiele? Personaler schreiben nichtssagende (und in Zukunft bedeutungslose) Zeugnisse in Sekunden, Bewerber überflüssige Bewerbungen. Marketer prompen Texte auf dem schlichtschlechten Niveau, auf dem sich früher eine der vielen Frauenzeitschriften oder das „Panorama“ in Magazinen befunden hat. Dir fällt bestimmt noch anderes ein.
Man kann sich nur wünschen, dass es baldmöglich Algorithmen gibt, die “AI” in Texten erkennen und kennzeichnen.
Was wird wirklich Nutzen stiften?
Einige Anwendungen sind in der Experimentierphase. Eine davon habe ich diese Woche kennengelernt: Im “adaptiven” Coaching kann man jetzt das „Wertequadrat“ mit Hilfe von ChatGPT bauen. Adaptiv, weil man dann mit dem Klienten darauf basierend weiterarbeiten kann.
Er bietet einem Wortalternativen und eine grafische Aufbereitung an. Das ist hilfreich für Einsteiger. Andrerseits bleibt KI hier noch im konventionellen Möglichkeitenbereich. Ich glaube, es wird wie bei den “Psychomodellen” generell hier mit der breiten Verfügbarkeit auch eine Sättigung geben.
Wirklicher Fortschritt im Coaching braucht eigene Kreativität, Emotion, Körperarbeit. Und die ist wohl eher in den Bildwelten der Virtual Reality zu finden, wenn nicht vor Ort.
Ich sehe die tieferen Chancen noch woanders: In der Bewusstseinserweiterung durch AI. Denn mit KI kann Ahnliches wie im Traum passieren: Die ordnenden, wertenden Strukturen lösen sich auf. Glaubenssätze und Überzeugungen können verschwinden. Ja, KI trägt sie in sich, aber das bezieht sich auf den Text. In Bildern verwischt das.
KI muss nicht fühlen
KI hat keine zwei Gehirnhälften. Sie muss auch nicht fühlen. Das fehlende Fühlen ist ein Vorteil bei der Kreativität. Kreative sind auch deshalb kreativ, weil sie dem Wahnsinn zuneigen, divergent denken und sich nicht an Regeln halten. Sie nutzen eher die rechte als die linke Gehirnhälfte.
Auch wenn die Hemisphären-Dominanz-Theorie veraltet ist, ist sie nicht ganz verworfen. Die rechte Gehirnhälfte spielt tatsächlich eine größere Rolle bei der Verarbeitung von visuellen und räumlichen Informationen, bei Intuition und der Erfassung von Zusammenhängen. Genau darum geht es bei Kreativität.
So kann KI aufbrechen, was sonst unaufbrechbar scheint. KI hat kein Gehirn.
Und das macht KI zu einem Kreativitätsbooster. Wenn wir sie wirklich verstehen. Und als allererstes fragen: Was macht KI überflüssig. Und nicht das Vorhandene durch sie zu ersetzen.
Im 2. Teil geht es um zwei Kreativitätstests, in denen KI gegen Menschen antritt. Einen habe ich selbst ausprobiert (Torrence Test of Creativity) und stelle die Prompts zur Verfügung. Wenn du kein Paid-Abonnent bist, erhältst du ihn in 5 Tagen. Bis dahin freue ich mich über deine Empfehlung meines Newsletters!
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2. Teil Getestet: KI gegen den Menschen
Der Alternative Uses Test (AUT28) von Guilford wird seit den 1960er Jahren eingesetzt. Er untersucht die Kreativität von Menschen hinsichtlich dreier Merkmale:
Zahl der Ideen (Fluidität)
Kategorien (Schubladen für die Ideen, zeigen verknüpftes Denken)
Originalität der Ideen (je weniger Menschen eine solche Idee haben, desto origineller)
Die Studie “Artificial muses: Generative Artificial Intelligence Chatbots Have Risen to Human-Level Creativity” von Jennifer Haase und Paul H.P. Hanel hat auf Basis dieses Tests menschliche Kreativität mit AI verglichen.
“We found no qualitative difference between AI and human-generated creativity, although there are differences in how ideas are generated.”
“Interestingly, 9.4% of humans were more creative than the most creative GAI, GPT-4.”
In dem Test geht es darum, alternative Anwendungen für den Gebrauch von Gegenständen zu finden. Bewertet wird die Zahl der Ideen, die Zahl der Kategorien und die Originalität.
Letzteres funktioniert nur im Vergleich, deshalb gibt es keine Internetversion, die mehr tut, als die Ideen zählen. Klar: Ich kann ja nur wissen, ob etwas originell ist, wenn ich es mit anderen vergleichen kann.
Ich habe meine eigenen Ideen mal mit denen von ChatGPT verglichen. Das Objekt war ein Tennisball. Ich kam in 23 Minuten auf 12 Ideen. ChatGPT fand in einer Viertelminute 11.
Wie ich hatte auch er Ideen, die einer Kategorie zugehören. Ich hatte Katzenspielzeug und Hundespielzeug, er z.B. Möbelschoner und Türstopper. Ich würde sagen: Stimmt, wir waren etwa gleich.
Das fand ChatGTP 4:
Möbelschoner
Türstopper
Massageball
Wäschehelfer
Garagenparkhilfe
Hundespielzeug
Fußstütze
Glas- und Flaschenöffner
Stressball
Geräuschdämpfer für Gehstöcke
Pflanzenhalter (schneiden Sie einen Tennisball zur Hälfte auf und nutzen Sie ihn als originellen Halter für kleine Pflanzen oder Sukkulenten).
Kritisch an dem Guilford-Test finde ich, dass er rein sprachliche Fähigkeiten bewertet. Kreativität zeigt sich aber mehr im Nichtsprachlichen. Deshalb arbeite ich öfter mit Aufgaben aus dem Torrence Test of Creativity.
Dieser braucht keine Sprache. Es geht vielmehr darum, die inneren Bilder zu etwas auf Papier zu bringen. In diesem Fall bin ich nicht selbst gegen ChatGPT angetreten, da es zahlreiche verfügbare Beispiele im Internet gibt, die zeigen, wie welche Ergebnisse eingestuft werden.
Ich zeige dir hier stellvertretend einen Teil des Tests, an dem du vier verschiedene Aspekte der Kreativität erkennen kannst. Bevor die weiterliest, denk einmal laut: Was ist die originellste Zeichnung?
Die Originellste ist die - von Darlene. Benjii hat die höchste Flexibilität, Eric die beste Ausarbeitung und Anna die größte Fluidität. Den Link für weitere Infos zu diesem Test findest du weiter unten.
Mit Dall-e bin ich bei dieser Aufgabenstellung nicht zu einem befriedigenden Ergebnis gekommen. Es gab zwar fantasievolle Kreise, aber diese waren immer miteinander verbunden.
Ich habe dann eine alternative Aufgabenstellung versucht: “Zeichne auf einem Blatt Papier 30 leere Kreise und fülle jeden maximal originell aus.” Das erste Ergebnis sah so aus:
Danach habe ich mich beklagt und gesagt, er denke ja nicht über die Form des Kreises hinaus. Dann kam das. Hier sieht man schon einen Fortschritt. Aber ähnliche Ideen habe ich in meinen Workshops auch schon gesehen - z.B. Jupiter-ähnliche Zeichnungen.
Das alles hat mich ein wenig beruhigt. Ja, KI ist kreativ, sehr sogar. Aber nein, da gibt es doch Unterschiede in der Ausgestaltung.
Wir kreativ ist KI? Insgesamt komme ich nach meinen Tests zu folgendem Zwischenfazit:
Jedes Fazit ist ein Zwischenfazit, eine Momentaufnahme, wie ein Foto.
Die Konsequenz: Ich verstehe meine Texte künftig wie einen Container, den ich immer wieder neu befülle. Das habe ich hier schon angefangen, da Substack die Möglichkeit der laufenden Aktualisierung bietet.
KI beherrscht eine wichtige kreative Technik: die der Dekonstruktion des Vorhandenen.
Die Konsequenz: Wir sollten sie genau dafür nutzen, denn unserer eigenen Dekonstruktion steht unser Verstand im Wege.
KI legt den Daumen in die Wunde, denn sie zeigt uns wo unsere eigene Intelligenz künstlich ist (bei Formularen, Zeugnissen, Bewerbungen, gerne Liste erweitern).
Konsequenz: Wir sollten vermeiden, sie für Dinge zu nutzen, die schon vorher überflüssig waren.
KI beherrscht eine wichtige kreative Technik aber auch nicht: Etwas zu sehen, was noch nicht da ist.
Ich glaube das zumindest im Moment. Die Konsequenz: Daran sollten wir arbeiten.
Der schöpferische Prozess ist genau das… ein Prozess.
Die Konsequenz: Früher wurden gute Ideen geklaut, jetzt fließt alles in gemeinsamen Prompting zusammen. Für das Urheberrecht muss man wirklich was Neues erfinden…
KI kann die Hemisphärendominanz überbrücken, weil sie kein Gehirn hat und nicht fühlt.
Konsequenz: Wir können wieder lernen zu träumen!
Weitersehen
Der erste AI-Film “The Frost”
Bilder von Midjourney im HBM, englische Ausgabe hier
Weiterlesen
Torrence Test of Creativity, mehr Info
Studie Vergleich von künstlicher und menschlicher Intelligenz, hier
Offene Termine
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