Die Arroganz der Laptopklasse
Newsletter 005: Warum wir die Selbstwirksamkeit aller Menschen stärken müssen
Gerade komme ich aus Athen zurück. Jeden Abend, auf dem Weg zurück in unser Stadtappartement, sah ich eine Mutter mit einem kleinen Baby auf dem Arm auf der Strasse betteln. Ich hatte schon vor Corona viel Armut in Athen gesehen. Aber 2022 ist es schlimmer als 2018.
Stolz, Arbeit zu geben
Es gibt dort auch eine andere Seite. Ein Missverhältnis zwischen Zahl der Angestellten und Herausforderungen des Jobs ist mir schon bei meinen früheren Besuchen ins Auge gefallen. Es liegt nicht an der griechischen Staatsquote, die ist mit rund 50% niedriger als in Schweden und Finnland. Es muss das Selbstverständnis sein. Man sagt mir, dass griechische Unternehmer stolz drauf sind, anderen Arbeit zu geben. Es gibt viel mehr Klein- und Kleinunternehmen als bei uns. Die Inhaber fühlen sich ihren Mitarbeitenden verpflichtet, sie sind Familie.
Im neuen Athener “Hellenium”, einem renaturierter Flughafen, kann man die Zukunft der Arbeit erleben. Auf zwei Besucher kommt ein Angestellter. In der Tiefgarage in der Nähe der Plaka, scheren sich um ein Auto gleich drei Mitarbeiter, die dieses ein- und ausparken. Beim Tanken hilft ein Tankwart. Rund 30 Euro am Tag fürs Parken und 2,30 pro Liter waren uns eine Lehre, künftig doch eher auf öffentliche Verkehrsmittel umzusteigen. Trotzdem, die Erfahrung will ich nicht missen…
Zukunft der Arbeit: Viele Menschen mit mehr Muße?
Spontan gefragt, würde ich antworten, dass das sicher nicht die Zukunft der Arbeit ist. Dazu habe ich zu viele leere Produktionshallen gesehen. Hallen, in denen Roboter Menschen fast vollständig ersetzt haben, etwa in Käsefabriken.
Aber ich habe mir angewöhnt, jeden meiner Gedanken mit dem Gegenteil zu kontrastieren. Was bringt mich zu dieser Annahme? Und was, wenn diese gar nicht stimmen würde?
Gedanken dazu: Schon jetzt macht Technologie immer mehr Jobs überflüssig. 600% mehr Kosten für Stahl, unbezahlbare Transporte: Der Kostendruck wird Folgen haben müssen. Ein Kollege, der in Süddeutschland Personalberater ist, meint, es stünden 700.000 Menschen auf Abruf in die Arbeitslosigkeit - derzeit geschützt durch großzügige Kurzarbeitsregelungen.
Es ist nicht nur die derzeitige Inflation. Es kommen auch die Langfristtrends dazu. Die Automobilindustrie kommt bei vollständiger Umstellung auf Elektromotoren mit deutlich weniger Personal aus. Die Jobprofile ändern sich, die Halbwertzeit für Kenntnisse sinkt. Und statt Ingenieuren sind Informatiker gefragt - oder noch besser Experten, die beide Disziplinen kombinieren.
Könige der Laptopklasse
In diese Zeit drückt sich “The Great Return” und die Frage, welchen Status man Experten und Spezialisten zubilligt, die gerne im Homeoffice bleiben. Sie sind die Könige der Laptopklasse, nicht nur des Silicon Valley. Sie dürfen ihre Workations machen, sich Arbeitgeber aussuchen und Gehälter ins Unendliche steigern. Ich habe eine kleine Umfrage auf Twitter gemacht, ob man 100% Wahlfreiheit für das Homeoffice zubilligen solle. 53% sind der Meinung, dass jeder völlig Wahlfreiheit haben solle, 24% glauben, dies solle exklusiv für Experten gelten, nur 23% halten Vorgaben für nötig.
Es gibt schon außerhalb der großen AI-Themen eine enorme Schieflage: Es werden händeringend Fachkräfte mit Kenntnissen und Kompetenzen gesucht, die derzeit schlicht nicht vorhanden sind. Mit solchen Kenntnissen und Kompetenzen auch, die so speziell sind, dass sie sich auch nicht einfach aufbauen lassen. Das braucht Jahre.
Was braut sich da zusammen? Ich habe so einige Krisen kommen und gehen gesehen. Es braucht sie. Sie sind Motor für Neues.
Am Ende der New Economy hatte ich mein bis dahin hart erspartes und an der Börse angelegtes Geld fast 100% in den Sand gesetzt.
Ich habe damals als HR Consultant in zahlreichen Abbauprojekten mitgewirkt und erfahren, was der Verlust von Arbeit mit Menschen machen kann.
Krisen steigern die Residenz - zuviel Wohlbefinden kann auch schaden
Gleichwohl habe ich auch erlebt, wie Menschen aufblühen können, wenn sie innerlich wachsen müssen - weil sie keine andere Chance haben. Krisen steigern die Resilienz. Man merkt, dass man wirksam ist, wenn man etwas bewältigt hat, was man nie zu bewältigen glaubte. Selbstwirksamkeitserwartung ist sowieso der stärkste Hebel für so ziemlich alles.
Wie wirksam fühle ich mich? Diese Frage ist wichtiger als Homeoffice.
Und sie entsteht, eben auch durch Krisen. Das ist das Dilemma. Nur aus Krisen entsteht Neues, wächst wahre Erkenntnis. Hier zeigt sich auch, welche Systeme überleben und welche nicht. Keine Theorie kann das.
Sattheit und Zufriedenheit ist aus dieser Sicht kein erstrebenswerter Zustand. Doch gleichwohl muss Existenzsicherung würdig und individuelle Sinnhaftigkeit im Job erreichbar sein.
Jeder muss Rahmenbedingungen finden können, um seine eigene Selbstwirksamkeit zu entwickeln. Und da bin ich wieder auf den Strassen von Athen: Wir können nicht zulassen, dass Startchancen so schlecht sind.
Und in den Büros und Parkhäusern: Dort hatte ich das Gefühl, dass sich diese Menschen wirksam fühlen. Auch wenn ein kostenbewusster Manager sofort enormes Streichpotenzial sehen würde.
Wenn Menschen sich nicht wirksam fühlen, dann verlieren sie sich. Deshalb müssen wir für diese Fragen Lösungen finden. Sie sind wichtiger als Homeoffice.
Was denken Sie dazu? Ich freue mich über Austausch und wünsche einen schönen Sonntag!
PS: In meiner Summer School im Juli sowie in meiner Masterclass Nextlevelcoaching geht es auch darum, wie wir die Zukunft der Arbeit aktiv mitgestalten. Schon reingeschaut?
Beiträge und Videos zum Weiterlesen:
Eigene neue Sachen
Meine Website ist renoviert und erneuert, mit neuen Angeboten und Tausenden Blogtexten seit 2006 (kein Scherz!). Im Pressespiegel hab ich den Cut aber 2018 gemacht. Schaut mal rein.
Interview mit mir im Gabal-Magazin
Videoblog: Diese Woche kommen zwei neue Videos, u.a. zu Zeitgöttern und einem gesünderen Umgang mit Zeit. Freue mich, wenn ihr den Kanal abonniert. YouTube mag solche Kanäle wie meinen nicht sonderlich, ist zu wenig reißerisch ;-). Werd mich künftig noch mehr auf das Thema mentale Modelle spezialisieren.
Was mir bei anderen diese Woche gefallen hat
Janina Weingarth auf LinkedIn hat zum Leitprozess “Resonanz” der Metatheorie von Klaus Eidenschink ein tolles Visual auf LinkedIn erstellt.
Ich liebe die Metatheorie von Klaus Eidenschink! Deshalb bei dieser Gelegenheit: Das Metatheorie-Tool von Klaus hat es in sich.
Sehr klar und treffend formuliert!