No. 72 Über das Unbewusste der Gruppe
Liebe Freunde und Freundinnen des Weiterdenkens,
wir haben diese Woche ordentlich Zuwachs bekommen: 53 neue Abos. So langsam nähern wir uns der 3.000er Marke. Ein herzliches Danke an alle, die schon länger dabei sind. Ich bin dankbar, denn ich weiß: Meine Texte können sehr lang werden, das ist nichts für 10-schnelle-Tipps-Menschen :-)
Diese Woche hatten meine wunderbare “Co-Gruppenentwicklerin” Tatjana Morgenthal und ich mit sieben kompetenten Menschen unser Seminar „Psychologie der Veränderung“ in Hamburg.
Warum können Gruppen so böse werden?
Eine Teilnehmerin fragte mich, warum in Gruppen Dinge passieren können wie im berühmten Experiment von Stanley Milgram und Philipp Zimbardo. Das ist das Experiment mit den Elektroschocks - ein Klassiker aus der sozialen Autoritätsforschung.
Was war das Szenario? Studienleiter Milgram wies zufälligen Teilnehmerinnen aus New Haven Rollen zu. Ein „Lehrer“ sollte einem „Schüler“ - in Wirklichkeit Schauspieler - bei Fehlern einen elektrischen Schlag versetzen. Die Intensität musste nach jedem weiteren Fehler erhöht werden. Der Schüler war in einem Nebenraum an einen Stuhl gebunden, sein „Stöhnen“ (bei leichten Schlägen) und „Brüllen“ (bei starkem Schlag) war für den Lehrer indes hörbar. Trotz dieser offensichtlichen Quälerei erhöhten die Lehrer die Stromschläge bis zum Maximum. So wurden aus normalen Menschen Peiniger - das jedenfalls sollte die Story sein.
Geht es um Gruppe oder Organisation?
Aber dachten die Leute wirklich, dass sie echte Stromschläge versetzten? Ich habe klassische Experimente der Sozialpsychologie vor einiger Zeit historisch eingeordnet (Link im Serviceteil Weiterlesen). Es gibt Zweifel, ob alles mit rechten Dingen zugegangen ist und die „Lehrer“ wirklich nicht ahnten, dass es nur ein Schauspiel war. Und nicht nur das: Kürzlich habe ich beim Systemtheoretiker Stefan Kühl die These gelesen, dass Milgram ohnehin nichts über Gruppendynamik aussage, sondern über Organisation.
Persönlichkeit verschwindet
Aber ob nun Gruppen grausam sind oder Organisationen: Tatsache ist, dass es Grausamkeit von Gruppen auch in der Realität gibt -und nicht nur im Experiment. Das ungezähmte Gruppentier ist eines, das von ritualisierten Normen gesteuert wird. Diese Normen sind so, dass sie den einzelnen beherrschen. Die individuelle Persönlichkeit verschwindet in der Dunkelheit der Angst vor der Strafe, aus dem Gefüge herauszufallen.
Ritualisierte Normen steuern
Wie grausam organisierte Gruppenrituale sein können, zeigt die russische Dedowschtschina, also die "Herrschaft der Großväter", trotz Verbots immer noch aktiv in Russland. Zu dieser Altherren-Herrschaft gehören Rituale von Schikanen und Demütigung bis hin zu schweren körperlichen Misshandlungen und Morden. Immer noch sollen junge Rekruten diesem System, wiewohl offiziell verboten, zum Opfer fallen.
Die psychoanalytische Sicht
Aus psychoanalytischer Sicht spiegeln sich in Gruppen die Muster vergangener Beziehungen. Gruppen können die vergangenen Erfahrungen aber auch erweitern und verändern. Danach hat die Gruppe ein eigenes überindividuelles Bewusstsein und auch ein Unbewusstsein. Dieses kollektive Unbewusste liegt tief verborgen, wie in einem Keller eingeschlossen. Es ist immer gegenwärtig, wiewohl nie greifbar. Es ist “undenkbar”.
Und undenkbar ist immer auch unfühlbar.
In diesem Unbewussten kriechen verdrängte Gefühle gebeutelt und ungeliebt wie über einen dunklen Kellerflur. Gefühle, die weggeschlossen werden mussten, weil sie sonst für die handelnde Instanz nicht erträglich gewesen wären. Weil sie nicht in unser „so sollst du sein“-Muster passten, das auf dem Weg zum “so bin ich wirklich” sich immer wieder selbst verliert. Da ist Ärger, der nicht gelebt werden darf. Sehnsüchte, die geheim sind. Tränen, die nicht geweint werden durften.
In den Kellern liegen gut verschnürte Ängste, in Kisten eingesperrte Traumata, allerlei unsortiert Unverarbeitetes. Kennt ihr das, wenn plötzlich etwas bewusst wird? Dann ist es als würden sich Steine lösen. Man weint und kann nicht aufhören. Es ist immer die Lösung, wenn sich etwas löst.
Doch manchmal löst sich nichts.
Gruppen entwickeln eine gemeinsame Persönlichkeit, die Gefühle kanalisiert. Svenja Hofert
Schlau oder dumm?
Gruppen können funktional und kraftvoll agieren. Sie können die Intelligenz eines jeden steigern. Genauso wie umgekehrt: Dann agieren sie dumm und einfältig. Oder auch: gestresst, traumatisiert, unter ihren Möglichkeiten.
Unter Druck verlieren Gruppen ihre kollektive Denk- und Handlungsfähigkeit. Prinzipien, an denen sie sich einst orientiert haben, gehen verloren. Sie krallen sich fest, fallen in den Keller, in kranker Lust, alte Muster zu wiederholen, die nicht mal die eigenen sein müssen. Es kommt zu einer Regression auf frühere Stufen des Verhaltens. Das kann von der kollektiven Depression bis zum kompromisslosen Überlebenskampf reichen.
Der Psychoanalytiker Otto F. Kernberg nennt das strukturelle Regression. Er unterscheidet depressive, psychopathische und paranoide Gruppen.
Depressive, paranoide und psychopathische Gruppen
Die depressiven Gruppen sind handlungsunfähig, blockiert. Gefühle von Schuld und Scham hemmen jede Produktivität. Die Führung ist blass, blutleer, handlungsunfähig.
Paranoide Gruppen kennzeichnet ihr radikales Freund-Feinschema. In ihrer Angst vor dem bösen Gegner erschaffen und verstärken sie die Angst beim Anderen und bei sich selbst. Sie können nur autoritär geführt werden: Allein ein Machtmensch vermag die Ängste kleiner erschreckter und doch aggressiver Kindzustände binden - und pumpt sich dabei immer weiter mit Macht auf.
Psychopathische Gruppen wiederum sind vom manipulativ-zersetzendem Verhalten ihrer Führung geprägt… In meinem Newsletter Nr. 41 schrieb ich über Dorothy Martin und die irre Kraft irrationaler Überzeugungen. Das ist ein Beispiel!
Wer da noch nicht dabei war:
Ausblick
Was wird in den Unternehmen geschehen, die derzeit im Wettbewerb stehen und zurück ins Leistungsparadigma winken? Welche “Gruppenkrankheiten” entstehen? Wo sind die Dysfunktionalitäten? Und wo, noch viel wichtiger, ist das Funktionale, das Fruchtbare, Heilende? Was meint ihr? Was erlebt ihr?
Meine Paid-Abonnenten bekommen nächste Woche Updates meiner Texte sowie einen neuen Aufschlag meines Lebensphasenmodells von 2018, das ich fast vergessen hatte.
Und mit etwas Glück schafft mein Audioproduzent bis nächste Woche Sonntag mein Interview mit Prof. Ulrich Lenz zu produzieren. Ein wunderbares Gespräch über Führen mit KI – doppeldeutig gemeint.
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Rätsel des Unbewussten, Folge #87. Die Folge über Propaganda und unbewusste Manipulation hat mich angeregt, das Buch von Kernberg noch mal hervorzuholen. Diesen Podcast liebe ich - er ist einfach nur wunderschön in seiner ruhigen, nachdenklichen und kunstvollen Art.
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Mein Artikel über Kritik an sozialpsychologischen Experimenten mit historischer Perspektive findet sich hier
Manfred Lütz im Gespräch mit Otto F. Kernberg (2022): Was hilft Psychotherapie, Herr Kernberg
Und wo wir schon beim Thema sind: Eines meiner Highlights ist das Buch über transgenerationale Traumata von Sandra Konrad: Das bleibt in der Familie
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Nach Jahren habe ich wieder mal ein längeres Video über vertikale Entwicklung aufgenommen. Auch hier gibt es den Aspekt der Regression. Auch dieses Modell lässt sich auf Gruppen beziehen:
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