Brat oder einfach breit?
No. 93 Kollektives Verhalten und Massenpsychologie in Zeiten des Internet
No. 93 Kollektives Verhalten und Massenpsychologie in Zeiten des Internet
„Die Macht der Worte knüpft sich an die durch sie vorgerufenen Bilder”. Gustave Le Bon.
Die Macht der Worte ist neongrün. Und denkbar inhaltsleer. Kamala Harris is „brat“. Gemeint ist nicht das Brät auf dem Grill, sondern ein Trend. Ausdrücken soll es: ein Gefühl von Aufbruch, Wir sind wie Harris!
Der grüne Trend geht zurück auf die Sängerin Charli XCX, die mit ihrem gleichnamigen Album den „brat summer“ eröffnet. Sie postete nur drei Worte - „Kamala IS brat“ - auf Giftgrün, um eine Meme-Schlacht bei TikTok zu eröffnen. „Ehrlich, direkt und ein bisschen unberechenbar“, so füllt Charli XCX ihr Trendwort mit Leben.
„Die bewusste Persönlichkeit verschwindet, die Gefühle und Gedanken aller Einheiten sind nach derselben Richtung orientiert. Es bildet sich eine Art Kollektivseele…“ Le Bon, Psychologie der Massen
Die Masse ist uniform. Sie verschluckt die Einzelpersönlichkeit und deren Bewusstsein. Die wechselhaften Gefühle der Masse sind in eine, dieselbe Richtung orientiert. Im Falle von Kamala Harris ist diese Richtung eindeutig: Aufbruch, wir können gewinnen!
Der Mediziner und Begründer der Massenpsychologie Gustave Le Bon schrieb 1895 seinen Bestseller „Die Psychologie der Massen“. Er begründete damit die Massenpsychologie als Teil der Sozialpsychologie. Heute heißt das kollektives Verhalten und ist in Soziologie und Sozialpsychologie angesiedelt. Es gibt nur eine Hürde für die Wissenschaft: Mit dem Experiment sind die heutigen Phänomene kaum zu erforschen.
So dringen Informatiker wie David Garcia vom Wiener Complexity Science Hub in die Disziplin ein. In einer Arbeit, die sich auf die kollektiven Emotionen im Zusammenhang mit dem Einsturz von Notre Dame bezogen, maß sein Team die Frequenz, mit der im Verlauf der Zeit bestimmte Begriffskategorien – etwa positive oder negative Emotionen – in den Tweets der Nutzer verwendet wurden.
Wenn mehrere Menschen zusammengebracht werden und miteinander interagieren, sehen wir, dass die Reaktionen der einen Person immer wieder neue Reaktionen bei anderen hervorrufen. David Garcia
Als also das Dach von Notre Dame einstürzte, hielten Menschen im ganzen Internet den Atem an. Wie das Trump-Attentat Menschen auf dem gesamten Globus fesselte, ist bei X dokumentiert. Kaum war klar, was passiert war, entwickelten sich erste Verschwörungstheorien. Gut und böse - das sind die beiden Grundtenöre, auf denen fast alles spielt.
Und jetzt steckt Kamala Harris mit “brat” und Aufbruchstimmung das “Gute” an. Wie lange wird as anhalten?
Aufbruchstimmung steckt an
Nicht lange. Denn die hinter den Stimmungen liegenden Emotionen verändern sich rasch. Man könnte sagen; sie verfärben sich. Wer ist der nächste Wolf, der die Schafsherde bedroht?
Dabei geht es immer wieder darum, die Angst der Kollektive zu binden. Und deshalb braucht es Menschen, die die Emotion verkörpern. Sie sind wie Visualisierungen der Emotion.
Kamala lacht viel, sie scheint immer freundlich, sie ist dynamisch, charismatisch vielleicht. Und deshalb passt sie ins durch Trump-Hass aufgeladene Emotionsmuster. Trump ist der böse Wolf…
Kompetenz spielt da (erstmal) keine Rolle. Und so schaut niemand ernsthaft auf die Bilanz von Harris - und jeder auf ihr lachendes Gesicht. Hoffnung, du strahlst!
Glaube ist Fühlen in der Masse
„Nie haben Massen nach der Wahrheit gedürstet“, schreibt Le Bon. „Von den Tatsachen, die ihnen missfallen, wenden sie sich ab und ziehen es vor, den Irrtum zu vergöttern, wenn er sie zu verführen vermag. Wer sie zu täuschen versucht, wird leicht ihr Herr, wer sie aufzuklären sucht, stets ihr Opfer.“ Le Bon, Psychologie der Massen)
Die Masse ist nicht rational; sie wägt nicht ab. Glaube ist Fühlen.
Und wenn Trump, Kamalas Gegner, im Wahlkampf immer wieder an Gott und die Christen appelliert, so appelliert er an etwas, das niemand hinterfragen darf, kann, sollte.
Gott ist groß, alles andere spielt keine Rolle. Gott schützt die Schafe, eure Schäfchen. Auch die Führer der Massen sind gottgleich. Trumps Überleben – ein Wunder oder göttliches Geschenk. Es kann kein Zufall sein.
Leon Festinger's Theorie der kognitiven Dissonanz beschreibt, dass Menschen ein inneres Bedürfnis nach Konsistenz zwischen ihren Überzeugungen, Einstellungen und Handlungen haben. Die Gruppe festigt diese.
Argumente können dann nicht mehr durchdringen. Dazu habe ich im Newsletter No. 41 geschrieben. Die Gruppe ist noch keine Masse. Hier kennt jeder noch jeden. Aber: Die Muster sind ähnlich.
In der Masse bilden sich Meinungen über Stimmung
Die Psychologin und Professorin von der State University in New York Susan Weinschenk schreibt das Herdenverhalten des Menschen dem Hirnstamm zu. Das ist der älteste Hirnbereich, auf den unser Verstand keinen Zugriff hat.
Was uns steuert, ist nicht der präfrontale Cortex, es ist dieses Stammhirn. Es meldet der Amygdala Angst, auch wenn unsere Sprache etwas anderes formuliert. Es reagiert auf unsere Umgebung, sucht Orientierung in den Emotionen der anderen. Denn das “Ich” ist in der Masse nicht spürbar, klein, verschwunden.
Was die Kollektivseele prägt? Sieben Punkte:
Sie ist hochsuggestibel - eine einzige Projektion.
Sie bewegt sich in eine Richtung.
Sie ist ein einziges, gemeinsames Gefühl: Aufbruch – in Freude oder Hass (Gegnerschaft)
Sie denkt nicht, sondern fühlt nur.
Sie nutzt einfachste Worte, die ein Gefühl ausdrücken.
Sie grenzt sich gegen etwas ab: „Wir gegen die anderen“.
Deindividuation: Sonst gültige Persönlichkeitseigenschaften verschwinden.
Werde ich in einer grölenden Menge mit einer Gegenposition aufwarten?
Wenn ich mich selbst frage: Höchstwahrscheinlich nicht.
Wahrscheinlicher ist die Ansteckung, selbst der vorher Zweifelnden. Auch ich bin öfter mal Projektionen aufgelaufen, wurde von der Masse verschluckt. Mindestens bei einem Konzert, Fussball ist nicht so meins.
Und weil das jedem passiert, sind Großveranstaltungen auch im Unternehmenskontext so beliebt. Sie prägen Stimmungen, Aufbruch etwa. Längst wissen wir, dass es keine Grenzen zwischen unserer Psychologie und Physiologie gibt. Manche Menschen spüren eher etwas Psychisches, andere etwas Körperliches; die Psychosomatik verbindet beides. Weder psychologistisch noch biologistisch - sondern sowohl als auch.
Es gibt aber auch keine Grenzen zwischen den Psychen einzelner Menschen in einem Kollektiv. Wo das Ich sitzt, ist umstritten: Manche orten es hinter den Augen. Aber es kann auch aus dem Körper treten, nicht nur in der Meditation, sondern auch in der virtuellen Realität. So wie schlechte Stimmung uns ansteckt, so springt auch der Funke der Freude über. Und mit ihr die damit transportierten Meinungen.
„Die Masse ist ein provisorisches Wesen, das aus heterogenen Elementen besteht, die für den Augenblick sich miteinander verbunden haben, genauso wie die Zellen des Organismus durch ihre Vereinigung ein neues Wesen mit ganz anderen Eigenschaften als denen der einzelnen Zellen bilden“. Gustave Le Bon, Psychologie der Massen
Der Wunsch nach Anerkennung und Zugehörigkeit führt uns in der Masse zusammen. Aber die Anerkennung kann auch zu einem Schwenk führen: Menschen, die nach Macht streben, bilden Unter- und Gegengruppen. Zwangsläufig, es sei denn es wird von einem autoritären Führer oder einem Clan mit Gewalt unterdrückt. Dieser Tage hat sich das Attentat auf Hitler gejährt. Die Historie zeigt: Es gibt immer diejenigen, die früher oder später dagegen sind. Und manche bezahlen es mit ihrem Leben. Es muss also um mehr gehen… und doch etwas “Kopf”.
„Sehr oft war der Führer zuvor Geführter. Er selbst war von der Idee, deren Apostel er später wurde, hypnotisiert worden.“ Gustave Le Bon, Psychologie der Massen
Und so ist damit zu rechnen, das Stimmungen kippen, weil Menschen ihren eigenen Machtbereich suchen oder weil ihr Gewissen durchschlägt, oder beides. Die Ingruppe wird zur Outgruppe allein durch einen Wandel der Gefühle entlang eines Wortsignals…
Aber soweit ist es noch nicht, wenn wir zurückkommen zum aktuellen Wortsignal. Noch wird sie größer, seit die “Obamas” Kamala unterstützen und weitere Gefühle der Hoffnung streuen.
Noch ist der Wettkampf ganz einfach: Und so geht die Ingruppe Trump zum Angriff auf die Outgruppe über. Auf ihren Freiheitsappell reagiert er mit einer klaren Ansage auf einer Rede in Minnesota: „Kamala, you are fired“. Die Führer brauchen einfachste Botschaften, Differenzierung würde die Massen vertreiben.
Gibt es Hoffnung? Ja, das Menschliche
Sozialpsychologen wie Serge Moscovici und John Drury haben gezeigt, dass in Massenseelen das Menschliche nicht verloren gehen muss. Sie haben u.a. das produktive und kooperative Verhalten der Menschen bei den Londoner Bombenanschlägen 2005 untersucht.
Andrerseits ist das kein Gegenbeweis: Es geht um Stimmung und wodurch diese aufgeladen ist, bestimmen Situation, Kontext und diejenigen, die Führung übernehmen. Ob sie nur an das Stammhirn oder auch an den Ort des Gewissens appelieren, der im Cortex liegt. Der Verstand ist nicht machtlos.
Ansteckend kann vieles sein. Auch der Verstand, auch der Zweifel. Irgendwann, so zeigte es auch Festinger, beginnen die ersten zu zweifeln. Das tun sie meist allein. Und öffentlich nur da, wo sie Raum bekommen.
Das Gewissen regt sich, sofern es vorhanden ist. Und es um mehr geht als nur etwas „brat“.
Einen schönen Sonntag, vielleicht mit etwas “brat”!
PS: Zu diesem Thema werde ich auch ein Kommentar-Video aufzeichnen. Falls du mir noch nicht bei Youtube folgst: Auch hier gibt es Weiterdenken.
Weiter lesen
Gustave Le Bon: Die Psychologie der Massen, 1871
Leon Festinare: Theorie der kognitiven Dissonanz, 1957
Aktuelle Forschung von David Garcia im Standard hier
Aktuelle Forschung von Drury, J., Cocking, C., & Reicher, S. (2009). "The nature of collective resilience: Survivor reactions to
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