Newsletter 018: Außer Kontrolle
Wie bescheuert ist das denn?
Wir sollen Waschlappen nutzen, um Wasser und Gas zu sparen, sagt Minister Kretschmann, Gymnasiallehrer und Berufspolitiker. Gastronomen sollen Ausweise kontrollieren, verlangt Karl Lauterbach, Arzt und Möchtegern-Virus-Experte. Überwachen wollen auch gebeutelte Unternehmen, besonders die Gasversorgung, Märkte, den Wettbewerb und die Fachkräfteeinwanderung.
Und wir selbst? Manchmal sind wir eifersüchtige Kontrollettis für Partner und bisweilen Gartenkontrolleure. Manche kontrollieren auch sich selbst.
Was für ein Brett… äh, einen Lappen haben wir da nur vorm Kopf!
Der Bock wird zum Kontrolleur gemacht
„Vertrauen reicht nicht, Kontrolle ist besser“, kommentierte mein Vater. Ist der breit angelegte Corona-Testzentren-Betrug nicht Beweis genug und Folge mangelnder Kontrolle? Nun wird der Bock zum Kontrolleur gemacht: Das RKI soll kontrollieren. Aber ist das Problem eines solche massenhaften Betrugs wirklich die Kontrolle? Oder nicht vielmehr etwas ganz anderes – fehlende Transparenz? Oder hakt es vielleicht ganz - am System?
Kann man überhaupt etwas Komplexes kontrollieren?
Lauter Kontrollillusionen
Kontrollillusion nennt man eine kognitive Verzerrung. Wir denken, wir haben es im Griff. Das beziehen wir vor allem auf Dinge, die nicht kontrollierbar sind. Sie liegen sämtlich außerhalb unseres Einflussbereiches. Das Wetter oder die Liebe. Aber auch den Erfolg. Das beziehen wir dann auf uns - auf Kompetenz oder Inkompetenz, gerne auch Intuition und Übersinnliches.
Wir meinen, das Komplexe, das Unwägbare einfangen und zähmen zu können.
Und dann kommen da die Dinge, über die man sich streiten kann: Viren, Unternehmenserfolg, das Denken der anderen, Verbrechen. Ein Teil ist beeinflussbar. Zeit spielt eine Rolle. In diesem Grenzbereich tappen wir regelmäßig in die Falle. Da setzen wir auf die Mittel des Einfachen und System-1-Denken.
Kontrolle ist besser? Ich bin absolut dafür, Betrügern Megalithen in den Weg zu räumen. Ich glaube aber nicht an die unbeschränkte Wirkung von Vertrauen. Vertrauen braucht den kleinen Kreis, es scheitert immer am Kollektiv. Es gibt zudem unterschiedliche Arten von Vertrauen: Ich kann jemand persönlich voll vertrauen, aber fachlich nicht.
Fantasielose und einfallsarme Old-World-Reaktionen
Die Fantasielosigkeit und die Einfallsarmut beim Umgang mit Situationen, die sich der Kontrolle entziehen, ist frappierend. Wer die Kontrolle verliert, bekommt Angst. Angst fressen nicht nur Seele auf, sondern auch Verstand - und die Fähigkeit zum Systemdenken, falls überhaupt vorhanden.
Angst fressen nicht nur Seele auf, sondern auch Verstand.
Mich nervt mit welcher Überheblichkeit öffentliche Personen ihre offensichtliche Hilflosigkeit in kollektive Tipp-Häppchen gießen. Wir sehen das aber auch in der Wirtschaft, wo die Ideenlosigkeit immer wieder in Kontrollfantasien mündet. Auf der Spitze des Mount Stupid sieht alles so kontrollierbar aus...
Väterlich-mütterliche Lebensweisheiten aus den 1970er Jahren gehen eben leicht über die Lippen, wenn man auf andere herabschaut - und nicht an sich zweifelt. Das ist kein Selbst-Bewusstsein, das ist eben genau das Gegenteil. Mann/Frau ist sich nichts bewusst.
Kennen Sie noch das Peter-Prinzip? Ich fürchte, es gilt noch immer. Man wird befördert bis zur maximalen Stufe der eigenen Inkompetenz. Das ist genau auch der Mount Stupid.
Soziale Kontrolle muss zur Kultur passen
Es gibt unterschiedliche Arten von Kontrolle.
Die soziale Kontrolle basiert auf dem Gedanken von Bestrafung und Belohnung durch das Kollektiv. „Hast du heute schon einen Waschlappen verwendet? Wieviel Sekunden hast du geduscht?“ Das wirkt möglicherweise in Kulturen mit kollektiver Orientierung schlimmer als die Androhung einer Gefängnisstrafe, vor allem wenn man damit einen negativen Social Score verbindet.
In unserer freiheitlichen Gesellschaft funktioniert derart direkte Kontrolle schlechter. Soziale Kontrolle etabliert sich bei uns nur da, wo innere Compliance dazukommt. Reine Regeltreue wirkt nicht, es muss auch Überzeugtheit dazukommen. Ich gehe über rote Ampeln, wenn kein Auto kommt. Manche tragen Masken in den Bergen, wo kein anderer Mensch ist.
Da sind wir bei der Selbstkontrolle.
Es gibt auch direkte Kontrolle. Über den Sinn der Überprüfung von Leistungen oder Funktionsweisen müssen wir uns nicht unterhalten. Aber auch hier gibt es Facetten. Der 2. Blick, die 2. Meinung, die weitere Expertise - für einige ist das immer noch Beleidigung und Vertrauensbruch.
Mein Gehirn, der unbekannte Befehlshaber
Eines der größten Probleme unserer Zeit ist, dass Entscheidungsträger nichts von co-kreativer Wissensmehrung halten. Die meisten derzeitigen Akteure gehen von sich und ihren Erfahrungen aus. Sie kennen kennen ihr Gehirn nicht und nutzen es wie anno dazumal: Sie halten also sich und ihre Einschätzung für maßgeblich. Sie überlegen nicht, fühlen nicht, sortieren den Unsinn nicht aus. Aus diesem Denken entspringt ein primitives Kontrollverständnis.
Die schöne Kassandra wurde von Priamos verflucht, weil er sie zurückwies. Niemals mehr solle jemand auf ihre Warnrufe vom Untergang Trojas gehört.
Die politischen, wirtschaftlichen und medialen Systeme sind so ge- und verstrickt, dass sie Wesentliches nicht hören, Wissen nicht mehren - und stattdessen gegeneinander ausspielen.
Co-kreatives Denken: die ständige Korrektur und Erweiterung von Wissen
Co-kreatives Denken würde auf eine ständige Korrektur und Erweiterung des kollektiven Wissens hinauslaufen. Wir müssten gemeinsam nach den größten Hebeln suchen, Unterschiedliches zulassen und versuchen. Das erfordert das genaue Gegenteil von Kontrolle im Richtig-Falsch-Modus.
Ideen sind gefragt, die berücksichtigen, dass Kontrolle eine Illusion ist. In den Systemen selbst muss installiert sein, was diese zähmt und bändigt, ohne Kreativität zu killen.
Transparenz etwa spart Kontrollen. Wenn beispielsweise alle Konten offenlägen, wenn jeder genau wüsste, was eine Frau Schlesinger vom RBB verdient und was sie als Spesen abrechnet – es bräuchte keine Inspekteure mehr. Die Schwarmintelligenz würde es vermutlich richten.
Gesunde innere Kontrolle
Innere Kontrolle ist mehr als Selbstkontrolle. Es ist der integrierte Mechanismus, der beobachtet, auch die eigenen Verzerrungen.
Wir müssen lernen, uns wieder mehr als Ganzes und Teile zu begreifen. In uns wohnen verschiedene Ich-Zustände. Sie kommen aus der Vergangenheit, sind unterschiedlichen Alters, spiegeln Eltern-Ich und Kind-Ich-Zustände. Sie transportieren damit auch immer biografisch bestimmte Glaubenssätze. Kretschmann ist 1948 geboren. Wir können ihn für sein Nachkriegsdenken nicht verurteilen, wohl aber für das fehlende Update im Denken.
Aber: Wir können daran arbeiten, das Bewusstsein für diese Mechanismen zu erweitern. Indem wir mir guten Ideen vorangehen und den Fokus darauf legen.
Gesunde innere Kontrollmechanismen sind wie Coaches. Sie beobachten und hinterfragen. Die eigene Kontrollillusion ebenso wie die wahre Motivation, etwas gut oder schlecht zu finden.
Ich freue mich über eure Meinungen und Ideen zum Thema!
Weiterlesen & -sehen
Mein Video Mount Stupid bei Youtube
Winfried Berner hat einige Hintergründe zur Kontrollillusion hier
Donnerstag 18:00-18:30 gebe ich für Teamworks einen kostenlosen 30-Minuten-Online-Impuls “Ist agil am Ende?” Gerne anmelden.
Inspiriert hat mich diese Woche
Die Sevillanas auf der Feria in Malaga. Tolle Tänze, tolle Leute, alle fröhlich, alle laut… Den Tanz will ich lernen.
Der Gedanke des “Weniger ist mehr”, mehr dazu bald :-)
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Foto von frustfaktor von kallejippphotocase