Weiterdenken No. 036: Sachliche Romanzen
Wenn die Liebe geht, ist sie weg. So ist das auch mit anderen Gefühlen. Wer sich einmal an sein Homeoffice gewöhnt hat, hat bald schon vergessen, wie sich „Büro“ anfühlt. Die damit verbundenen Emotionen sind vergangen und aus der eigenen Wahrnehmung verschwunden. Nun steht man woanders. Und dieser neue Kontext beinhaltet neue Gefühlsmuster.
Selbst der Wäscheständer auf dem Balkon ist jetzt wichtigerer Teil des Lebens.
Symbolisch ist es der Wäscheständer. Dieses hässliche Ding, das immer umkippt und nie gut aussieht. Auf dem jedes Bettlaken überdimensioniert ist. Ein Ärgernis für Städter mit kleinem Balkon.
Neue Lebensinhalte überspielen alte Erfahrungen. Der Blick richtet sich auf andere Dinge - und weg von den Kollegen. In der Videokachel sind sie weniger präsent als… der Wäscheständer.
Was gerade passiert, erinnert mich an das Gedicht „sachliche Romanze“ von Erich Kästner. Die fast 100 Jahre alten Verse beschreiben wie sich das frühere Gefühl der Liebe zwischen zwei Menschen sich plötzlich in Luft aufgelöst hat. Da heißt es: “Als sie einander acht Jahre kannten (und man darf sagen: sie kannten sich gut), kam ihre Liebe plötzlich abhanden. Wie andern Leuten ein Stock oder Hut.”
Das Bürogefühl ist irgendwie fremd geworden.
Die Verse sagen viel über das Wesen von Emotionen. Sie sind wie der Herzschlag, gehen hoch und runter - und ja beeinflussen auch den Blutdruck. Der normale Zustand aber ist gleichförmig, ohne besondere Höhen und Tiefen. Der normale Zustand ist eine Stimmung mit dosierter Aufregung dazwischen.
Danach streben wir Menschen, die einen mehr, die anderen weniger. Gleichförmigkeit entsteht in gleichbleibenden Kontexten. Sie erzeugt Vertrautheit, macht das Leben aber auch… langweilig. Wie eine Beziehung ohne Kribbeln im Bauch.
Auf emotionalem Rückzug
Welche Folgen das verlorene Bürogefühl hat? Vermutlich ähnliche wie eine “sachliche Romanze”. Man sucht sich andere Felder. Die einen gewöhnen sich an die Gewöhnung, die anderen stürzen sich in Abenteuer. Allerdings nicht im Büro. Da geht man nicht so gern hin, es fühlt sich nicht mehr wie ein zweites Zuhause an.
Die verantwortlichen Führungskräfte und HR-Beauftragte erlebe ich als ratlos, was zu tun ist. Manche stehen in ihren Referaten und Gruppen allein auf weiter Flur, mit Bespaßung und Bindung beauftragt.
Und ich frage mich: Agieren diese Talentenwickler, Impuls-Bespaßer und Lern-Planerinnen nicht ins Leere?
Einige Mitarbeiter scheinen immer effizienter zu werden, arbeiten ohne links und rechts zu blicken – und beschleunigen in den eigenen vier Wänden. Andere bauen Freizeit und Quality Time aus.
Eher selten wächst man kreativ zusammen. Wenn dann dort, wo die intrinsische Begeisterung den Grundtenor bildet. Denn da ist die sachliche Romanze ins Thema eingewickelt. Wem´s um richtig coole Produkte wie einen Film, Musik, Fitnessprogramm oder ein Game geht, für den waren diese ominösen Bürogefühle schon früher nicht wichtig. Woanders wächst der Abstand zu den Kollegen, die bisher den coolen Film ersetzt haben.
Emotionen sind… denkbar
Gefühle blitzen oft nur sehr kurz auf, zwei Sekunden vielleicht: Freude, Trauer, Angst, Interesse, Ekel. Sie hinterlassen Erinnerungsspuren und sie bilden eine emotionale Stimmung aus, die alles wie in einen Eintopf verrührt. Aktuelle Begegnungen geben Würze, Distanz macht fad.
Wenn ich also von Büroemotion aka Bürogefühl spreche meine ich das unspezifisch, jeder hat seinen eigenen Gefühlseintopf. Aber das Verschwinden des Bürogefühls, das ist für alle gleich. Weg ist weg.
Ohne Bürogefühl keine Bezugspunkte, Gemeinsamkeiten, Verbindungen.
Ohne Bürogefühl gehen Bezugspunkte verloren, Gemeinsamkeiten, Verbindungen. Und das geht schnell. Es braucht keine acht Jahre, um zu vergessen, was es ausgemacht hat. „Aus den Augen aus dem Sinn“, ist mehr als nur küchenpsychologische Weisheit. Sie hat auch ein weniger sprichwörtliches Gegenstück: Je öfter wir uns sehen, desto mehr erinnern wir uns aneinander.
Ohne Bürogefühl ist jeder Job kulturlos
Wie wichtig des Bürogefühl ist, erkennen die meisten Organisationen spätestens, wenn sie sich die Fluktuation ansehen. Mitarbeitende, die in der Coronazeit Online an Bord kamen, sind meist schneller wieder weg als solche, die schon vorher da waren. Für die, die nie das spezifische Bürogefühl einer Organisation kennengelernt haben, fühlt sich die Arbeit zuhause auch nach einem Arbeitgeberwechsel gleich an.
Wo kein Raum- und Kontextempfinden das Bürogefühl formte, entstanden auch keine damit verbundenen kulturellen Erinnerungen. Das macht sich bemerkbar, wenn Mitarbeiter von „vor Corona“ mit den neu Ongeboardeten zusammenkommen. Der Subtext fehlt.
Es ist nur konsequent, wenn das Bürogefühl, wie es früher war, verschwindet.
Doch wenn es weg ist, verschwindet auch die Funktion, die es hatte. Unsere Arbeitswelt ist nicht auf sachliche Romanzen ausgerichtet, sondern auf wilde Romanzen mit Sinn- und Beziehungsversprechen.
So geht es um mehr als nur um Maßnahmen zur Kompensation verlorener Emotionen. Es geht darum, die Beziehung zum Arbeitgeber neu zu definieren.
Und so komme ich zurück zur sachlichen Romanze. Ist nicht die Liebe auch nur eine Erfindung der Aufklärung? Kann man Gefühle nicht auch neudeuten?
Ach ja, manch sachliche Romanze hat durchaus ihre Vorteile.
Für die Bilder bedanke ich mich bei Cottonbro für Pexels.
Weiter: Lesen, Sehen & Hören
Ich habe ChatGPT weiter auf den Zahn gefühlt, dieses Mal zu Agilität. Was weiß ChatGPT darüber? Macht euch ein Bild.
Hier mein Interview mit ChatGPT als Video
Inspiriert hat mich diese Woche
Die Begegnung mit einem Teil meiner Familie, den ich bisher nicht kannte.
Der Wäscheständer: Eingebracht als “Kreativpropblem” hat ihn ein Teilnehmer aus unserer Gruppe 13 von TeamworksPLUS in Modul 5
Wunderbares Origami als Geschenk für die Gruppe, unten Foto. Ja, das ist der Teamworks-Vogel. Danke Annika!
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Foto von Johannes Plenio: https://www.pexels.com/de-de/foto/flug-dammerung-himmel-sonnenuntergang-1126384/